(1997.1) 186:0.1 ALS Jesus und seine Ankläger sich zu Herodes aufmachten, wandte sich der Meister an den Apostel Johannes und sagte: „Johannes, du kannst nichts mehr für mich tun. Geh zu meiner Mutter und bringe sie her, damit sie mich noch sieht, bevor ich sterbe.“ Als Johannes die Bitte seines Meisters vernahm, widerstrebte es ihm zwar, ihn allein inmitten seiner Feinde zurückzulassen, aber dennoch eilte er nach Bethanien, wo Jesu gesamte Familie im Hause Marthas und Marias, der Schwestern des von Jesus von den Toten auferweckten Lazarus, versammelt war und wartete.
(1997.2) 186:0.2 Im Verlaufe des Morgens hatten Boten Martha und Maria mehrmals Nachrichten vom Verlauf des Prozesses gegen Jesus gebracht. Aber Jesu Familie erreichte Bethanien erst einige Minuten, bevor Johannes mit Jesu Bitte eintraf, vor seiner Hinrichtung noch seine Mutter zu sehen. Nachdem Johannes Zebedäus ihnen alles berichtet hatte, was sich seit der mitternächtlichen Verhaftung Jesu abgespielt hatte, machte sich seine Mutter Maria in seiner Begleitung sofort auf, um ihren ältesten Sohn zu sehen. Als Maria und Johannes die Stadt erreichten, war Jesus begleitet von den römischen Soldaten, die ihn kreuzigen sollten, schon auf Golgatha angekommen.
(1997.3) 186:0.3 Als Maria, Jesu Mutter, sich mit Johannes zu ihrem Sohn aufmachte, weigerte sich seine Schwester Ruth, bei der restlichen Familie zurückzubleiben. Da sie entschlossen war, ihre Mutter zu begleiten, ging ihr Bruder Jude mit ihr. Die übrigen Familienmitglieder des Meisters blieben unter Führung von Jakobus in Bethanien, und fast stündlich überbrachten Boten des David Zebedäus ihnen Berichte vom Fortgang des schrecklichen Werks der Hinrichtung ihres ältesten Bruders, Jesu von Nazareth.
(1997.4) 186:1.1 Es war etwa halb neun an diesem Freitagmorgen, als Jesu Vernehmung vor Pilatus zu Ende ging und der Meister den römischen Soldaten, die den Auftrag hatten, ihn zu kreuzigen, in Gewahrsam gegeben wurde. Sobald sich Jesus in der Hand der Römer befand, marschierte der Hauptmann der jüdischen Wachen mit seinen Männern zum Tempelhauptquartier zurück. Der Hohepriester und seine Kollegen im Sanhedrin folgten dicht hinter den Wachen und begaben sich direkt an ihren gewohnten Treffpunkt im Tempelsaal aus behauenem Stein. Hier trafen sie auf viele andere Mitglieder des Sanhedrins, die darauf warteten zu erfahren, was mit Jesus geschehen war. Kajaphas war mitten in seiner Berichterstattung an den Sanhedrin über Jesu Prozess und Verurteilung, als Judas vor ihnen erschien, um Anspruch auf seine Belohnung für die Rolle zu erheben, die er bei des Meisters Festnahme und Verurteilung zum Tode gespielt hatte.
(1997.5) 186:1.2 All diese Juden verabscheuten Judas; sie blickten nur mit Gefühlen äußerster Verachtung auf den Verräter. Während des Prozesses Jesu vor Kajaphas und seines Erscheinens vor Pilatus bekam Judas Gewissensbisse wegen seines verräterischen Verhaltens. Und er begann auch, irgendwie seine Illusionen hinsichtlich der Belohnung zu verlieren, die er als Bezahlung für seine Dienste als Jesu Verräter erhalten würde. Ihm missfiel die Kühle und Distanziertheit der jüdischen Führerschaft; trotzdem erwartete er, für sein niederträchtiges Verhalten großzügig belohnt zu werden. Er sah sich schon vor den vollzählig versammelten Sanhedrin gerufen und hörte, wie man ihn ebenda pries und ihm gebührende Ehre erwies in Anerkennung des großen Dienstes, den er — so schmeichelte er sich — seinem Volk erwiesen hatte. Stellt euch deshalb die große Überraschung des geltungsbedürftigen Verräters vor, als ein Diener des Hohenpriesters ihm auf die Schulter klopfte, ihn kurzerhand zum Verlassen des Saales aufforderte und zu ihm sagte: „Judas, ich bin beauftragt, dich für den Verrat an Jesus zu bezahlen. Hier ist deine Belohnung.“ Und während er sprach, händigte der Diener des Kajaphas Judas einen Beutel aus, der dreißig Silberstücke enthielt — den gängigen Preis für einen guten, gesunden Sklaven.
(1998.1) 186:1.3 Judas war wie betäubt, einfach sprachlos. Er stürzte zurück, wollte wieder in den Saal, aber der Türhüter versperrte ihm den Weg. Er wollte den Sanhedrin anrufen, aber man ließ ihn nicht ein. Judas konnte nicht glauben, dass diese Judenführer ihn seine Freunde und seinen Meister verraten ließen und ihm dann als Entgelt dreißig Silberstücke anboten. Er war gedemütigt, desillusioniert, vollkommen vernichtet. Wie in Trance bewegte er sich vom Tempel weg. Er ließ den Geldbeutel automatisch in seine tiefe Tasche fallen, in dieselbe Tasche, in der er so lange den Beutel mit dem apostolischen Geld getragen hatte. Und er wanderte durch die Stadt hinter der Volksmenge her, die hinauszog, um bei den Kreuzigungen zugegen zu sein.
(1998.2) 186:1.4 Aus einiger Entfernung sah Judas, wie sie den Kreuzesbalken mit dem darauf genagelten Jesus in die Höhe hoben. Bei diesem Anblick stürzte er zum Tempel zurück, erzwang sich am Türsteher vorbei Zutritt zum Saal und fand sich dem Sanhedrin gegenüber, der immer noch tagte. Der Verräter war fast außer Atem und höchst erregt, aber er brachte es noch fertig, die Worte zu stammeln: „Ich habe gesündigt, indem ich unschuldiges Blut verraten habe. Ihr habt mich beleidigt. Als Belohnung für meinen Dienst habt ihr mir Geld angeboten — den Preis eines Sklaven. Ich bereue, dass ich das getan habe; hier ist euer Geld. Ich will der Schuld für diese Tat entgehen.“
(1998.3) 186:1.5 Als die Führer der Juden Judas so sprechen hörten, verspotteten sie ihn. Einer von ihnen, der nahe bei der Stelle saß, wo Judas stand, gab ihm mit einem Wink zu verstehen, er solle den Saal verlassen und sagte: „Dein Meister ist bereits von den Römern hingerichtet worden, und was deine Schuld betrifft, was geht sie uns an? Werde du selber damit fertig — und scher dich fort!“
(1998.4) 186:1.6 Beim Verlassen des Sitzungsraum des Sanhedrins zog er die dreißig Silberstücke aus dem Beutel und warf sie in weitem Bogen auf den Tempelboden. Als der Verräter aus dem Tempel ging, war er fast außer sich. Judas machte jetzt die bewusste Erfahrung der wahren Natur der Sünde. Der ganze Zauber, die Faszination und der Rausch üblen Tuns waren verflogen. Der Übeltäter stand jetzt allein da, Auge in Auge mit dem Urteilsspruch seiner desillusionierten und enttäuschten Seele. Sünde zu begehen war betörend und abenteuerlich, aber jetzt muss der Ernte der nackten und unromantischen Tatsachen ins Auge geschaut werden.
(1998.5) 186:1.7 Der vormalige Botschafter des Königreichs des Himmels auf Erden wanderte jetzt verlassen und allein durch die Straßen Jerusalems. Seine Verzweiflung war entsetzlich, nahezu absolut. Er schritt weiter durch die Stadt, verließ ihre Mauern und begab sich hinab in die schreckliche Einsamkeit des Tales Hinnom, wo er die steilen Felsen hinaufkletterte und dann den Gürtel seines Umhangs nahm, das eine Ende an einem kleinen Baum festmachte, das andere um seinen Hals schlang und sich in den Abgrund stürzte. Noch ehe er tot war, gab der Knoten, den seine fahrigen Hände geknüpft hatten, nach, und der Körper des Verräters wurde in der Tiefe beim Aufprall auf den zackigen Felsen zerfetzt.
(1999.1) 186:2.1 Als Jesus festgenommen wurde, wusste er, dass sein Werk in Menschengestalt auf Erden abgeschlossen war. Er war sich über die Todesart, die ihn erwartete, völlig im Klaren, und er kümmerte sich wenig um die Einzelheiten seines sogenannten Prozesses.
(1999.2) 186:2.2 Vor dem Gerichtshof der Sanhedristen weigerte sich Jesus, etwas auf die Aussagen der falschen Zeugen zu erwidern. Es gab nur eine einzige Frage, die, ob von Freund oder Feind gestellt, ihm immer eine Antwort entlockte, und das war diejenige nach Wesen und Göttlichkeit seiner Sendung auf Erden. Unfehlbar antwortete er jedesmal, wenn man ihn fragte, ob er der Sohn Gottes sei. Standhaft weigerte er sich zu sprechen, als er sich dem neugierigen und niederträchtigen Herodes gegenüber befand. Vor Pilatus sprach er nur, wenn er dachte, Pilatus oder einer anderen aufrichtigen Person könnte durch das, was er sagte, zu einem besseren Verständnis der Wahrheit verholfen werden. Jesus hatte seine Apostel gelehrt, dass es zwecklos sei, Perlen vor die Säue zu werfen, und er wagte jetzt zu handeln, wie er gelehrt hatte. Sein Verhalten in diesen Stunden ist beispielhaft für die geduldige Unterwerfung der menschlichen Natur im Verein mit dem majestätischen Schweigen und der feierlichen Würde der göttlichen Natur. Er war durchaus gewillt, mit Pilatus jede Frage zu besprechen, die im Zusammenhang mit den gegen ihn erhobenen politischen Anklagen stand — jede Frage, von der er wusste, dass sie zu der richterlichen Zuständigkeit des Statthalters gehörte.
(1999.3) 186:2.3 Jesus war überzeugt, dass es des Vaters Wille war, dass er sich genauso dem natürlichen und gewöhnlichen Lauf der menschlichen Ereignisse unterwerfe, wie jedes andere sterbliche Geschöpf dies auch tun muss, und deshalb weigerte er sich, sogar seine rein menschlichen Mittel überzeugender Beredsamkeit einzusetzen, um das Ergebnis der Machenschaften seiner sozial kurzsichtigen und geistig blinden Mitmenschen zu beeinflussen. Obwohl Jesus auf Urantia lebte und starb, war sein gesamter menschlicher Lebenslauf von Anfang bis Ende ein Schauspiel, das bestimmt war, das ganze von ihm erschaffene und unaufhörlich gestützte Universum zu beeinflussen und anzuleiten.
(1999.4) 186:2.4 Jene kurzsichtigen Juden forderten mit unziemlichem Schreien den Tod des Meisters, während er in schrecklichem Schweigen auf die Todesszene einer Nation — des eigenen Volkes seines irdischen Vaters — schaute.
(1999.5) 186:2.5 Jesus hatte jenen Typ menschlichen Charakters erworben, der angesichts fortgesetzter und ungerechtfertigter Beschimpfung seine Haltung bewahren und seine Würde behaupten kann. Man konnte ihn nicht einschüchtern. Als der Diener des Hannas als erster gegen ihn tätlich wurde, bemerkte er nur, es wäre angemessen, Zeugen zu rufen, die, wie es sich gehörte, gegen ihn aussagen könnten.
(1999.6) 186:2.6 Von Anfang bis Ende des sogenannten Prozesses vor Pilatus konnten sich die zuschauenden himmlischen Heerscharen nicht enthalten, die Szene als den „Prozess des Pilatus vor Jesus“ zu beschreiben und ins Universum auszustrahlen.
(1999.7) 186:2.7 Als Jesus vor Kajaphas stand und alle falschen Zeugnisse in sich zusammengefallen waren, zögerte er nicht, die Frage des Hohenpriesters zu beantworten und damit den Richtern durch sein eigenes Zeugnis gerade die Grundlage zu verschaffen, die sie brauchten, um ihn der Gotteslästerung zu überführen.
(1999.8) 186:2.8 Der Meister zeigte nie das geringste Interesse an den gut gemeinten, aber halbherzigen Anstrengungen des Pilatus, seine Freilassung zu erwirken. Er hatte echtes Mitleid mit Pilatus und versuchte aufrichtig, Licht in sein verdunkeltes Gemüt zu bringen. Er verhielt sich völlig passiv gegenüber allen Appellen des römischen Statthalters an die Juden, ihre auf Verbrechen lautenden Anklagen gegen ihn zurückzuziehen. Während der ganzen leidvollen Prüfung zeigte er in seinem Verhalten schlichte Würde und unaufdringliche Majestät. Er bezichtigte seine baldigen Mörder nicht einmal der Unaufrichtigkeit, als sie ihn fragten, ob er der „König der Juden“ sei. Mit nur geringer Korrektur akzeptierte er diese Bezeichnung, weil er wohl wusste, dass er auch ohne die Tatsache, dass sie sich gegen ihn entschieden hatten, der letzte wäre, um für sie als wirklicher nationaler Führer in Frage zu kommen, auch nicht in einem geistigen Sinne.
(2000.1) 186:2.9 Jesus sagte während dieser Verhandlungen nur wenig, aber er sagte genug, um allen Sterblichen die Art menschlichen Charakters vor Augen zu führen, die ein Mensch in Partnerschaft mit Gott entwickeln kann, und um dem ganzen Universum zu zeigen, wie Gott im Leben eines Geschöpfes offenbar werden kann, wenn dieses Geschöpf wirklich beschlossen hat, den Willen des Vaters zu tun und dadurch zu einem tatkräftigen Sohn des lebendigen Gottes zu werden.
(2000.2) 186:2.10 Seine Liebe zu den unwissenden Sterblichen offenbart sich ganz in seiner Geduld und großen Selbstbeherrschung angesichts des Spottes, der Schläge und Püffe von rohen Soldaten und gedankenlosen Dienern. Er wurde nicht einmal zornig, als sie ihm die Augen verbanden, ihm ins Gesicht schlugen und höhnisch riefen: „Prophezeie uns, wer dich geschlagen hat.“
(2000.3) 186:2.11 Pilatus sprach wahrer, als er ahnte, als er Jesus, nachdem er ihn hatte auspeitschen lassen, der Menge mit dem Ausruf vorstellte: „Seht den Menschen!“ Der von Furcht gepackte römische Statthalter hätte sich allerdings nie träumen lassen, dass gerade in diesem Augenblick das Universum stillstand und gebannt auf die beispiellose Szene blickte, wie sein geliebter Herrscher die entwürdigenden Verhöhnungen und Schläge seiner verfinsterten und verkommenen sterblichen Untertanen über sich ergehen ließ. Und als Pilatus sprach, echote es durch ganz Nebadon: „Seht den Gott und Menschen!“ In einem ganzen Universum haben von dem Tag an ungezählte Millionen nie aufgehört, auf diesen Menschen zu schauen, während der Gott von Havona, der höchste Gebieter des Universums der Universen, den Menschen aus Nazareth akzeptiert als die Erfüllung des Ideals von einem menschlichen Geschöpf dieses Lokaluniversums von Zeit und Raum. Jesus versäumte es in seinem beispiellosen Leben nie, den Menschen Gott zu offenbaren. Und jetzt, in diesen letzten Episoden seines irdischen Lebensweges und in seinem darauf folgenden Sterben, gab er Gott eine neue und ergreifende Offenbarung des Menschen.
(2000.4) 186:3.1 Kurz nachdem Jesus am Ende der Vernehmung durch Pilatus den römischen Soldaten übergeben worden war, brach eine Abteilung der Tempelwache eilends nach Gethsemane auf, um die Anhänger des Meisters zu verjagen oder festzunehmen. Aber als sie dort eintraf, hatten sich jene längst zerstreut. Die Apostel hatten sich in zuvor bestimmte Verstecke zurückgezogen; die Griechen hatten sich getrennt und waren in verschiedenen Häusern Jerusalems untergekommen; und in derselben Weise waren auch die übrigen Jünger verschwunden. David Zebedäus rechnete damit, dass Jesu Feinde zurückkehren würden; deshalb verlegte er fünf oder sechs Zelte in die Schlucht hinauf, wohin der Meister sich so oft zu Gebet und Anbetung zurückgezogen hatte. Hier gedachte er sich zu verstecken und gleichzeitig ein Zentrum, eine Koordinationsstelle für seinen Botendienst aufrechtzuerhalten. David hatte das Lager kaum verlassen, als die Tempelwächter anlangten. Da sie niemanden vorfanden, begnügten sie sich damit, das Lager in Brand zu stecken und kehrten dann eilends zum Tempel zurück. Der Sanhedrin hörte sich ihren Rapport an und war befriedigt, dass Jesu Anhänger so völlig verängstigt und überwältigt waren und somit keine Gefahr einer Erhebung oder irgendeines Versuchs bestand, Jesus aus den Händen seiner Henker zu retten. Sie konnten endlich erleichtert aufatmen, und so schlossen sie die Sitzung, und jeder ging seines Weges, um sich auf Passah vorzubereiten.
(2000.5) 186:3.2 Kaum hatte Pilatus Jesus den römischen Soldaten zur Kreuzigung übergeben, als ein Bote mit dieser Nachricht zu David nach Gethsemane eilte, und fünf Minuten später waren bereits Läufer unterwegs nach Bethsaida, Pella, Philadelphia, Sidon, Schechem, Hebron, Damaskus und Alexandrien. Diese Boten überbrachten die Nachricht, dass die Römer auf starken Druck der jüdischen Führer hin im Begriff waren, Jesus zu kreuzigen.
(2001.1) 186:3.3 Während dieses tragischen Tages ließ David den Aposteln, den Griechen und der irdischen Familie Jesu, die in Bethanien im Hause des Lazarus versammelt war, ungefähr jede halbe Stunde durch Läufer Berichte zukommen, bis endlich die letzte Botschaft mit der Nachricht hinausging, der Meister sei in das Grab gelegt worden. Als die Boten mit der Meldung, Jesus sei bestattet worden, aufbrachen, entließ David die Mannschaft lokaler Läufer für die Zeit der Passahfeierlichkeiten und des kommenden Ruhesabbats und wies sie an, sich am Sonntagmorgen unauffällig bei ihm im Hause des Nikodemus wieder zu melden, wo er sich für ein paar Tage mit Andreas und Simon Petrus versteckt zu halten gedachte.
(2001.2) 186:3.4 David Zebedäus besaß ein Gemüt besonderer Art. Von den führenden Jüngern Jesu war er der einzige, der bereit war, des Meisters Erklärung, er werde sterben und „am dritten Tag auferstehen“, in einem wörtlichen und ganz praktischen Sinn zu nehmen. David hatte ihn diese Voraussage einmal machen hören, und da sein Verstand alles wörtlich zu nehmen pflegte, hatte er jetzt vor, seine Boten am frühen Sonntagmorgen im Hause des Nikodemus zu versammeln, damit sie, sollte Jesus von den Toten auferstehen, zur Stelle wären, um die Nachricht zu verbreiten. David entdeckte bald, dass keiner von Jesu Anhängern erwartete, er würde so bald vom Grabe zurückkehren; deshalb sprach er kaum über seinen Glauben und gar nicht über die Mobilisierung seiner ganzen Botenmannschaft am frühen Sonntagmorgen außer mit den Läufern, die er am Freitagvormittag in entfernte Städte und Zentren von Gläubigen ausgeschickt hatte.
(2001.3) 186:3.5 Und Jesu Anhänger, die in ganz Jerusalem und Umgebung verstreut waren, aßen an diesem Abend das Passahmahl und verbrachten den folgenden Tag hinter verschlossenen Türen.
(2001.4) 186:4.1 Nachdem Pilatus vor der Menge seine Hände gewaschen und so versucht hatte, der Schuld zu entgehen, einen unschuldigen Menschen kreuzigen zu lassen, nur weil er Angst hatte, sich dem Schreien der jüdischen Führer zu widersetzen, befahl er, den Meister den römischen Soldaten zu übergeben und beauftragte deren Hauptmann, ihn sofort zu kreuzigen. Die Soldaten übernahmen Jesus und führten ihn in den Hof des Prätoriums zurück, wo sie die Robe, in die Herodes ihn gekleidet hatte, von ihm nahmen und ihm seine eigenen Kleider anzogen. Sie verspotteten und verlachten ihn, züchtigten ihn aber physisch nicht noch weiter. Jesus war jetzt mit diesen römischen Soldaten allein. Seine Freunde hielten sich versteckt; seine Feinde waren ihrer Wege gegangen; nicht einmal Johannes Zebedäus war länger an seiner Seite.
(2001.5) 186:4.2 Es war etwas nach acht, als Pilatus Jesus den Soldaten übergab, und etwas vor neun, als diese zum Schauplatz der Kreuzigung aufbrachen. Während dieser Zeit von mehr als einer halben Stunde sprach Jesus kein einziges Wort. Die Regierungsgeschäfte eines riesigen Universums waren praktisch zum Stillstand gekommen. Gabriel und die höchsten Regierenden von Nebadon waren entweder hier auf Urantia versammelt oder verfolgten angestrengt die Raumübermittlungen der Erzengel, um laufend zu erfahren, was dem Menschensohn auf Urantia zustieß.
(2001.6) 186:4.3 Bis die Soldaten so weit waren, mit Jesus nach Golgatha aufzubrechen, hatten seine ungewöhnliche Haltung und außerordentliche Würde und sein klagloses Schweigen begonnen, sie zu beeindrucken.
(2001.7) 186:4.4 Ihr Aufbruch mit Jesus zur Kreuzigungsstätte wurde hauptsächlich dadurch verzögert, dass der Hauptmann in letzter Minute entschied, zwei zum Tode verurteilte Diebe mitzunehmen. Da Jesus noch an diesem Morgen gekreuzigt werden sollte, befand der römische Hauptmann, die beiden könnten ebenso gut jetzt mit ihm sterben, anstatt das Ende der Passahfeierlichkeiten abzuwarten.
(2002.1) 186:4.5 Sobald man die Diebe bereit gemacht hatte, wurden sie in den Hof geführt, wo sie Jesus erblickten. Der eine sah ihn zum ersten Mal, aber der andere hatte ihn oft sprechen gehört, sowohl im Tempel als auch viele Monate zuvor im Lager von Pella.
(2002.2) 186:5.1 Es besteht kein direkter Zusammenhang zwischen Jesu Tod und dem jüdischen Passah. Es stimmt, dass der Meister sein Leben an diesem Tag, dem Tag der Vorbereitung auf das jüdische Passahfest, und ungefähr zur Zeit der Opferung der Passahlämmer im Tempel, hingegeben hat. Aber dieses Zusammenfallen von Ereignissen bedeutet in keiner Weise, dass der Tod des Menschensohnes auf Erden irgendeine Verbindung mit dem jüdischen Opfersystem hat. Jesus war ein Jude, aber als Menschensohn war er ein Sterblicher der Welten. Die bereits erzählten Ereignisse, die zu dieser der Kreuzigung unmittelbar vorausgehenden Stunde führten, lassen hinreichend erkennen, dass sein Tod gerade um diese Zeit eine rein natürliche und von Menschen gehandhabte Angelegenheit war.
(2002.3) 186:5.2 Der Mensch, und nicht Gott, hat Jesu Tod am Kreuz geplant und herbeigeführt. Es ist wahr, dass der Vater es ablehnte, in den Lauf der menschlichen Ereignisse auf Urantia einzugreifen, aber weder verfügte noch verlangte oder forderte der Vater im Paradies die Hinrichtung seines Sohnes, wie sie auf Erden vollzogen wurde. Tatsächlich hätte Jesus früher oder später seinen sterblichen Körper ablegen, seine Inkarnation als Mensch beenden müssen, aber er hätte dies auf unzählige andere Arten tun können, ohne zwischen zwei Dieben am Kreuz zu sterben. All das war Menschen- und nicht Gotteswerk.
(2002.4) 186:5.3 Zum Zeitpunkt seiner Taufe hatte sich der Meister die Technik der von ihm verlangten Erfahrung eines Menschen auf Erden, deren er zur Erfüllung seiner siebenten und letzten Selbsthingabe an das Universum bedurfte, bereits vollkommen angeeignet. Zu jener Stunde hatte Jesus seine Pflicht auf Erden bereits getan. Das ganze Leben, das er danach lebte und sogar die Art und Weise seines Sterbens waren sein rein persönlicher Liebesdienst zum Wohl und zur Erbauung seiner sterblichen Geschöpfe auf dieser und anderen Welten.
(2002.5) 186:5.4 Das Evangelium von der guten Nachricht, dass der sterbliche Mensch durch den Glauben zum geistigen Bewusstsein kommen kann, ein Sohn Gottes zu sein, hängt nicht von Jesu Tod ab. Es ist allerdings wahr, dass dieses ganze Evangelium vom Königreich durch den Tod des Meisters wunderbar erhellt worden ist — aber noch mehr durch sein Leben.
(2002.6) 186:5.5 Alles, was der Menschensohn auf Erden gesprochen oder getan hat, hat die Lehren von der Gottessohnschaft und von der Brüderlichkeit der Menschen um vieles schöner gemacht, aber diese grundlegenden Beziehungen zwischen Gott und den Menschen liegen in der Natur der universalen Tatsachen der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen und der angeborenen Barmherzigkeit der göttlichen Söhne. Diese rührenden und göttlich schönen Beziehungen zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer auf dieser und allen anderen Welten im ganzen Universum der Universen existieren seit ewig; und sie hängen in gar keiner Weise von den periodischen Selbsthingaben der Schöpfersöhne Gottes ab, welche die Natur und Gestalt der von ihnen erschaffenen Intelligenzen annehmen als Teil des Preises, den sie für die schließliche Erwerbung unbeschränkter Souveränität über ihr jeweiliges Lokaluniversum zu zahlen haben.
(2002.7) 186:5.6 Der Vater im Himmel hat die sterblichen Menschen auf Erden vor Jesu Leben und Sterben auf Urantia genauso sehr geliebt wie nach dieser transzendenten Manifestation der Partnerschaft zwischen Mensch und Gott. Das gewaltige Geschehen der Inkarnation des Gottes von Nebadon als Mensch auf Urantia konnte die Attribute des ewigen, unendlichen und universalen Vaters nicht verstärken, aber es bereicherte und erleuchtete alle übrigen Verwalter und Geschöpfe des Universums von Nebadon. Die Liebe des himmlischen Vaters zu uns hat wegen der Selbsthingabe Michaels nicht zugenommen, wohl aber jene aller übrigen himmlischen Intelligenzen. Und dem ist so, weil Jesus nicht nur den Menschen Gott offenbarte, sondern umgekehrt auch den Göttern und himmlischen Intelligenzen des Universums der Universen eine neue Offenbarung vom Menschen gab.
(2003.1) 186:5.7 Jesus ist nicht im Begriff, als ein Opfer für Sünde zu sterben. Er wird nicht die angeborene moralische Schuld der menschlichen Rasse sühnen. Die Menschheit trägt vor Gott keine derartige Rassenschuld. Schuld ist ausschließlich eine Angelegenheit persönlicher Sünde, wissentlicher und vorsätzlicher Auflehnung gegen den Willen des Vaters und die Verwaltung seiner Söhne.
(2003.2) 186:5.8 Sünde und Rebellion haben mit dem fundamentalen Selbsthingabeplan der Paradies-Söhne Gottes nichts zu tun, obwohl es uns so vorkommt, als sei der Errettungsplan ein einstweiliger Wesenszug des Selbsthingabeplans.
(2003.3) 186:5.9 Die den Menschen Urantias von Gott angebotene Errettung wäre ebenso wirkungsvoll und untrüglich gewiss gewesen, wenn Jesus nicht durch die grausamen Hände unwissender Sterblicher umgebracht worden wäre. Hätten die Sterblichen der Erde den Meister günstig aufgenommen und hätte er Urantia durch freiwillige Aufgabe seines inkarnierten Lebens verlassen, so wäre die Tatsache der Liebe Gottes und der Barmherzigkeit des Sohnes — die Tatsache der Sohnesbeziehung zu Gott — davon in keiner Weise berührt worden. Ihr Sterblichen seid Söhne Gottes, und nur eines ist nötig, um diese Tatsache in eurer persönlichen Erfahrung Wirklichkeit werden zu lassen: euer aus dem Geiste geborener Glaube.