(1734.1) 156:0.1 AM Freitagnachmittag, dem 10. Juni, kamen Jesus und seine Gefährten in der Umgebung von Sidon an, wo sie im Haus einer wohlhabenden Frau Halt machten, die zur Zeit, als Jesus auf der Höhe der Öffentlichkeitsgunst gestanden hatte, als Patientin im Spital von Bethsaida gewesen war. Die Evangelisten und Apostel wurden in der unmittelbaren Nachbarschaft bei Freunden dieser Frau untergebracht, und sie ruhten sich den Sabbattag über in dieser erfrischenden Umgebung aus. Sie verbrachten fast zweieinhalb Wochen in Sidon und seiner Nachbarschaft, bevor sie sich zum Besuch der nördlichen Küstenstädte bereitmachten.
(1734.2) 156:0.2 Dieser Junisabbattag verlief sehr ruhig. Die Evangelisten und Apostel waren vollkommen in ihre Gedanken bezüglich des Meisters Reden über Religion versunken, die sie auf dem Weg nach Sidon gehört hatten. Sie waren alle in der Lage, etwas von dem, was er ihnen gesagt hatte, zu würdigen, aber keiner von ihnen erfasste die ganze Tragweite seiner Unterweisung.
(1734.3) 156:1.1 In der Nähe des Hauses von Karuska, wo der Meister wohnte, lebte eine syrische Frau, die viel von Jesus als einem großen Heiler und Lehrer gehört hatte, und an diesem Sabbatnachmittag kam sie mit ihrer kleinen Tochter herüber. Das etwa zwölf Jahre alte Kind litt an schweren Nervenstörungen, die sich in Krämpfen und anderen quälenden Erscheinungen äußerten.
(1734.4) 156:1.2 Jesus hatte seinen Mitarbeitern eingeschärft, niemandem gegenüber seine Anwesenheit im Hause von Karuska zu erwähnen, und erklärt, sich ausruhen zu wollen. Sie hielten sich an ihres Meisters Weisung, aber Karuskas Magd lief zum Hause Noranas, der syrischen Frau, hinüber, um ihr zu sagen, Jesus weile im Hause ihrer Herrin, und drängte die besorgte Mutter, ihre leidende Tochter zu bringen, damit sie geheilt würde. Die Mutter glaubte natürlich, ihre Tochter sei von einem Dämon, einem unreinen Geist besessen.
(1734.5) 156:1.3 Als Norana mit ihrer Tochter ankam, erklärten ihr die Alphäus Zwillinge durch einen Dolmetscher, dass sich der Meister ausruhe und nicht gestört werden dürfe. Darauf erwiderte Norana, sie werde mit ihrem Kind dableiben, bis der Meister sich ausgeruht habe. Auch Petrus unternahm es, ihr gut zuzureden und sie zur Heimkehr zu bewegen. Er erklärte ihr, Jesus sei vom vielen Lehren und Heilen müde und sei nach Phönizien gekommen, um eine Zeit der Stille und Ruhe zu haben. Aber es war vergebens; Norana wollte nicht gehen. Auf Petrus‘ dringende Bitten antwortete sie nur: „Ich werde nicht gehen, bevor ich euren Meister gesehen habe. Ich weiß, dass er den Dämon aus meinem Kind austreiben kann, und ich werde nicht eher gehen, als bis der Heiler einen Blick auf meine Tochter geworfen hat.“
(1734.6) 156:1.4 Dann versuchte Thomas, die Frau wegzuschicken, aber auch er hatte keinen Erfolg. Sie sagte zu ihm: „Ich glaube fest daran, dass euer Meister den Dämon, der mein Kind quält, austreiben kann. Ich habe von seinen großen Taten in Galiläa gehört, und ich glaube an ihn. Was ist denn nur mit euch, seinen Schülern, los, dass ihr jene abweist, die eures Meisters Hilfe suchen?“ Als sie so gesprochen hatte, zog sich Thomas zurück.
(1735.1) 156:1.5 Daraufhin trat Simon Zelotes heraus, um Norana Vorhaltungen zu machen. Simon sagte: „Frau, du bist eine griechisch sprechende Heidin. Es ist nicht recht, dass du vom Meister erwartest, das für die Kinder des bevorzugten Hauses bestimmte Brot zu nehmen und es vor die Hunde zu werfen.“ Aber Norana ließ sich von Simons Hieb nicht beleidigen. Sie gab nur zur Antwort: „Ja, Lehrer, ich verstehe deine Worte. In den Augen der Juden bin ich nur ein Hund, aber was deinen Meister betrifft, bin ich ein gläubiger Hund. Ich bin fest entschlossen, dass er meine Tochter sehen soll, denn ich bin davon überzeugt, dass er nur einen Blick auf sie zu werfen braucht, um sie zu heilen. Und auch du, guter Mann, würdest den Hunden niemals das Recht verwehren, sich der Brotreste zu bemächtigen, die etwa vom Tisch der Kinder fallen.“
(1735.2) 156:1.6 Gerade in diesem Augenblick wurde das kleine Mädchen vor aller Augen von einem heftigen Krampf gepackt, und die Mutter rief aus: „Da könnt ihr sehen, dass mein Kind von einem bösen Geist besessen ist. Auch wenn unsere Not euch nicht beeindruckt, so würde sie bestimmt euren Meister bewegen, der, wie ich gehört habe, alle Menschen liebt und es sogar wagt, die Heiden zu heilen, wenn sie glauben. Ihr seid es nicht wert, seine Jünger zu sein. Ich werde nicht weggehen, bis mein Kind geheilt ist.“
(1735.3) 156:1.7 Jesus, der die ganze Unterhaltung durch ein offenes Fenster mit angehört hatte, kam nun sehr zu aller Überraschung heraus und sagte: „Oh Frau, dein Glaube ist groß, so groß, dass ich dir nicht vorenthalten kann, was du begehrst; geh in Frieden deines Weges. Deine Tochter ist bereits geheilt.“ Und das kleine Mädchen war von Stund an gesund. Als sich Norana und das Kind verabschiedeten, bat Jesus alle dringend, niemandem etwas von der Begebenheit zu erzählen. Seine Gefährten kamen der Bitte nach, aber Mutter und Kind wurden nicht müde, überall in der Gegend und sogar in Sidon die Tatsache der Heilung des kleinen Mädchens zu verkünden, so dass es Jesus ratsam erschien, nach ein paar Tagen seine Unterkunft zu wechseln.
(1735.4) 156:1.8 Als Jesus seine Apostel am nächsten Tag unterwies, sagte er als Kommentar zur Heilung der Tochter der syrischen Frau: „Und so ist es schon immer gewesen; ihr könnt selber sehen, wie sehr die Heiden des rettenden Glaubens an die Wahrheiten des Evangeliums vom Königreich des Himmels fähig sind. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, dass die Heiden sich des Königreichs des Vaters bemächtigen werden, wenn die Kinder Abrahams nicht genug Glauben zeigen wollen, um es zu betreten.“
(1735.5) 156:2.1 Als sie in Sidon ankamen, gingen Jesus und seine Gefährten über eine Brücke, die erste, die viele von ihnen je gesehen hatten. Als sie sie überquerten, sagte Jesus unter anderem: „Diese Welt ist nur eine Brücke; man kann darüber gehen, aber man sollte nicht daran denken, ein Haus darauf zu bauen.“
(1735.6) 156:2.2 Während die Vierundzwanzig sich in Sidon an die Arbeit machten, logierte sich Jesus etwas nördlich der Stadt im Haus der Justa und ihrer Mutter Bernice ein. Hier unterwies er die Vierundzwanzig jeden Morgen, und nachmittags und abends gingen sie nach Sidon hinüber, um zu lehren und zu predigen.
(1735.7) 156:2.3 Die Apostel und Evangelisten wurden durch die Art, in der die Heiden von Sidon ihre Botschaft aufnahmen, mächtig angespornt. Viele wurden während ihres kurzen Aufenthaltes dem Königreich hinzugefügt. Die ungefähr sechswöchige Periode in Phönizien war eine sehr fruchtbare Zeit in der Arbeit der Seelengewinnung, aber die späteren jüdischen Verfasser der Evangelien pflegten den Bericht von dem warmen Empfang leichtfertig zu übergehen, den diese Heiden den Lehren Jesu zu einer Zeit bereiteten, als seine eigenen Leute ihm in großer Zahl feindlich gegenüberstanden.
(1736.1) 156:2.4 In mancher Hinsicht würdigten diese nichtjüdischen Gläubigen die Lehren Jesu besser als die Juden. Viele von diesen griechisch sprechenden Syrophöniziern gelangten nicht nur zur Erkenntnis, dass Jesus wie Gott war, sondern auch, dass Gott wie Jesus war. Diese so genannten Heiden vermochten die Lehren des Meisters über die Einheitlichkeit der Gesetze dieser Welt und des ganzen Universums gut zu verstehen. Sie erfassten die Lehre, dass Gott keinen Unterschied zwischen Personen, Rassen oder Nationen macht; dass es für den Universalen Vater keine Günstlingswirtschaft gibt; dass das Universum ganz und gar und auf ewig Gesetzen gehorcht und unfehlbar verlässlich ist. Diese Heiden hatten keine Angst vor Jesus; sie wagten, seine Botschaft anzunehmen. In den Zeitaltern danach waren die Menschen nicht unfähig, Jesus zu verstehen; aber sie hatten Angst davor.
(1736.2) 156:2.5 Jesus gab den Vierundzwanzig klar zu verstehen, dass er nicht aus Mangel an Mut, seinen Feinden gegenüberzutreten, aus Galiläa geflohen war. Sie verstanden, dass er noch nicht bereit war für einen offenen Zusammenprall mit der bestehenden Religion und dass er nicht danach strebte, ein Märtyrer zu werden. Es war während einer dieser Unterweisungen im Hause von Justa, dass der Meister zum ersten Mal zu seinen Jüngern sagte: „Sollten auch Himmel und Erde vergehen, meine Worte der Wahrheit werden nicht vergehen.“
(1736.3) 156:2.6 Das Thema der Unterweisungen Jesu während des Aufenthalts in Sidon war geistiger Fortschritt. Er sagte ihnen, sie könnten nicht stillstehen; sie müssten in Rechtschaffenheit vorwärts gehen, oder aber zurückfallen in Übel und Sünde. Er ermahnte sie, „zu vergessen, was der Vergangenheit angehört, während ihr energisch danach strebt, die größeren Realitäten des Königreichs zu erfassen“. Er bat sie inständig, sich nicht mit ihrem kindlichen Stadium im Evangelium zufrieden zu geben, sondern alles daranzusetzen, das volle Format göttlicher Sohnschaft in der Zwiesprache mit dem Geist und in der Bruderschaft der Gläubigen zu erreichen.
(1736.4) 156:2.7 Jesus sagte: „Meine Jünger müssen nicht nur aufhören, Übles zu tun, sondern lernen, Gutes zu tun; ihr müsst nicht nur von aller bewussten Sünde rein sein, sondern ihr müsst euch auch weigern, irgendwelche Schuldgefühle zu hegen. Wenn ihr eure Sünden eingesteht, sind sie euch vergeben; deshalb sollt ihr euer Gewissen von begangenen Verfehlungen freihalten.“
(1736.5) 156:2.8 Jesus hatte große Freude an dem ausgesprochenen Sinn für Humor, den diese Heiden an den Tag legten. Es war ebenso sehr der Sinn für Humor der Syrerin Norana wie ihr großer und beharrlicher Glaube, der des Meisters Herz so sehr rührte und an seine Barmherzigkeit appellierte. Jesus bedauerte tief, dass sein Volk, die Juden, so sehr des Humors entbehrten. Er sagte einmal zu Thomas: „Meine Landsleute nehmen sich selbst zu wichtig. Sinn für Humor geht ihnen fast gänzlich ab. Die bedrückende Religion der Pharisäer hätte niemals in einem Volk mit Sinn für Humor entstehen können. Es fehlt ihnen auch an Konsequenz; sie seihen Mücken und verschlucken Kamele.“
(1736.6) 156:3.1 Am Dienstag, dem 28. Juni, verließ der Meister mit seinen Mitarbeitern Sidon und ging an der Meeresküste entlang nach Porphyreon und Heldua. Die Heiden bereiteten ihnen einen freundlichen Empfang, und viele wurden während dieser Lehr- und Predigtwoche für das Königreich gewonnen. Die Apostel predigten in Porphyreon und die Evangelisten lehrten in Heldua. Während die Vierundzwanzig ihrer Arbeit nachgingen, verließ Jesus sie für drei oder vier Tage und stattete der Küstenstadt Beirut einen Besuch ab, wo er sich mit einem Syrer namens Malach unterhielt. Malach war ein Glaubender, der ein Jahr zuvor in Bethsaida gewesen war.
(1737.1) 156:3.2 Am Mittwoch, dem 6. Juli, kehrten sie alle nach Sidon zurück und blieben bis Sonntagvormittag im Hause der Justa, ehe sie nach Tyrus aufbrachen. Sie gingen südwärts an der Küste entlang über Sarepta und kamen am Montag, dem 11. Juli, in Tyrus an. Mittlerweile hatten sich die Apostel und Evangelisten daran gewöhnt, unter diesen so genannten Heiden zu arbeiten, bei denen es sich in Wahrheit hauptsächlich um Nachkommen der früheren kanaanitischen Stämme handelte, die noch früheren semitischen Ursprungs waren. All diese Leute sprachen griechisch. Die Apostel und Evangelisten waren höchst überrascht von dem Eifer dieser Nichtjuden, das Evangelium zu hören, und von der Bereitschaft, mit der viele von ihnen glaubten.
(1737.2) 156:4.1 Vom 11. bis zum 24. Juli lehrten sie in Tyrus. Jeder Apostel nahm einen der Evangelisten mit sich, und so lehrten und predigten sie immer zu zweit überall in Tyrus und Umgebung. Die vielsprachige Bevölkerung dieser geschäftigen Hafenstadt hörte ihnen mit Freuden zu, und viele wurden getauft und in die äußere Bruderschaft des Königreichs aufgenommen. Jesus hatte sein Hauptquartier im Haus eines Juden namens Joseph, eines Gläubigen, aufgeschlagen, der sechs bis sieben Kilometer südlich von Tyrus unweit des Grabes von Hiram wohnte, der zur Zeit Davids und Salomons König des Stadtstaates von Tyrus gewesen war.
(1737.3) 156:4.2 Während dieser zwei Wochen begaben sich die Apostel und Evangelisten täglich über den Damm Alexanders nach Tyrus, um kleine Versammlungen abzuhalten, und jeden Abend kehrten die meisten von ihnen zum Lager bei Josephs Haus südlich der Stadt zurück. Jeden Tag kamen Gläubige aus der Stadt, um mit Jesus an seinem Aufenthaltsort zu reden. Der Meister sprach nur einmal, am Nachmittag des 20. Juli in Tyrus, als er zu den Gläubigen über des Vaters Liebe für alle Menschenkinder redete und über die Sendung des Sohnes, allen Rassen der Menschheit den Vater zu offenbaren. Diese Heiden bekundeten für das Evangelium vom Königreich ein derartiges Interesse, dass man Jesus bei dieser Gelegenheit die Tore des Melkarth-Tempels öffnete, und es ist interessant zu vermerken, dass in späteren Jahren an ebendieser Stelle des alten Tempels eine christliche Kirche errichtet wurde.
(1737.4) 156:4.3 Viele führende Hersteller von tyrischem Purpur, dem Farbstoff, der Tyrus und Sidon in der ganzen Welt berühmt gemacht und so sehr zu ihrem weltumspannenden Handel und darauf beruhenden Reichtum beigetragen hatte, glaubten an das Königreich. Als sich kurz darauf der Vorrat an Meerestieren, die diesen Farbstoff lieferten, zu erschöpfen begann, begaben sich die Farbhersteller auf die Suche nach anderweitigen Vorkommen dieser Schalentiere. Dabei gingen sie bis ans Ende der Welt und trugen überallhin die Botschaft von der Vaterschaft Gottes und der Bruderschaft der Menschen — das Evangelium vom Königreich.
(1737.5) 156:5.1 An diesem Mittwochnachmittag begann Jesus seine Ausführungen damit, dass er seinen Jüngern die Geschichte von der weißen Lilie erzählte, die ihr reines und schneeiges Haupt hoch aufgerichtet der Sonne entgegenhält, während ihre Wurzeln im Schlamm und Schmutz der dunklen Erde gründen. „Ebenso vermag der sterbliche Mensch“, sagte er, „während sein Ursprung und Wesen im tierischen Grund der menschlichen Natur wurzelt, seine geistige Natur kraft seines Glaubens in das Sonnenlicht der himmlischen Wahrheit zu erheben und tatsächlich die edlen Früchte des Geistes zu tragen.“
(1738.1) 156:5.2 In derselben Predigt benutzte Jesus das erste und einzige Gleichnis, das auf sein eigenes Handwerk — den Zimmermannsberuf — Bezug nahm. Im Laufe seiner Ermahnung, „gute Fundamente für das Wachstum eines edlen Charakters mit geistigen Gaben zu bauen“, sagte er: „Um die Früchte des Geistes hervorzubringen, müsst ihr aus dem Geiste geboren sein. Ihr müsst vom Geist belehrt und vom Geist geführt werden, wenn ihr unter euren Mitmenschen ein geisterfülltes Dasein leben wollt. Aber macht nicht den Fehler des törichten Zimmermanns, der kostbare Zeit mit Behauen, Ausmessen und Abhobeln eines wurmstichigen und inwendig verfaulten Bauholzes verschwendet und dann, nachdem er seine ganze Arbeitskraft an den morschen Balken gegeben hat, diesen als untauglich für das Fundament eines Hauses ausscheiden muss, das er so bauen wollte, dass es den Angriffen von Zeit und Sturm trotze. Jedermann soll sich vergewissern, dass die intellektuellen und sittlichen Fundamente seines Charakters solcherart sind, dass sie den Überbau der wachsenden und sich veredelnden geistigen Natur richtig zu tragen vermögen. Und diese soll nun ihrerseits den sterblichen Verstand verwandeln und dann im Verein mit diesem neugeschaffenen Verstand die Entfaltung der Seele bewirken, deren Bestimmung ewig ist. Eure geistige Natur — die gemeinsam erschaffene Seele — ist eine lebendige Pflanze, aber Verstand und Sittlichkeit des Einzelnen sind der Boden, aus dem die höheren Manifestationen menschlicher Entwicklung und göttlicher Bestimmung hervorsprießen müssen. Der Boden der sich entwickelnden Seele ist menschlich und materiell, aber die Bestimmung dieses aus Verstand und Geist kombinierten Geschöpfes ist geistig und göttlich.“
(1738.2) 156:5.3 Am Abend desselben Tages fragte Nathanael Jesus: „Meister, warum beten wir, Gott möge uns nicht in Versuchung führen, obwohl wir durch deine Offenbarung des Vaters wohl wissen, dass der Vater niemals solche Dinge tut?“ Jesus antwortete Nathanael:
(1738.3) 156:5.4 „Es verwundert mich nicht, dass du solche Fragen stellst, da du beginnst, den Vater so zu kennen, wie ich ihn kenne, und nicht, wie die alten hebräischen Propheten, die sich ein so düsteres Bild von ihm machten. Du weißt wohl, dass unsere Vorväter stets bereit waren, in fast allem, was geschah, Gott zu sehen. Sie suchten die Hand Gottes in allem natürlichen Geschehen und in jeder ungewöhnlichen Episode der menschlichen Existenz. Sie brachten Gott ebenso mit dem Guten wie mit dem Bösen in Verbindung. Sie dachten, er besänftige das Herz des Moses und verhärte das Herz des Pharao. Wenn ein Mensch einen starken Drang verspürte, etwas zu tun, Gutes oder Böses, dann hatte er die Gewohnheit, sich über diese ungewöhnlichen Regungen mit den Worten Rechenschaft abzulegen: „Der Herr hat zu mir gesprochen und gesagt, tue dies und das, oder gehe dahin oder dorthin.“ Da die Menschen so oft und heftig in Versuchung gerieten, gewöhnten sich unsere Ahnen deshalb daran zu glauben, Gott habe sie dahin gebracht, um sie zu prüfen, zu bestrafen oder zu stärken. Aber du weißt es jetzt natürlich besser. Du weißt, dass die Menschen nur allzu oft unter dem Drang ihrer Selbstsucht und unter den Impulsen ihrer animalischen Natur in Versuchung geführt werden. Solltest du in dieser Weise versucht werden, so ermahne ich dich, derweilen du die Versuchung ehrlich und aufrichtig als das erkennst, was sie ist, die geistigen, mentalen und körperlichen Energien, die sich ausdrücken möchten, einsichtsvoll in höhere Kanäle und zu idealistischeren Zielen hinzulenken. Auf diese Weise kannst du deine Versuchungen in die höchsten Formen beflügelnden menschlichen Dienstes umwandeln und die vergeudenden und schwächenden Konflikte zwischen der animalischen und der geistigen Natur fast ganz vermeiden.
(1738.4) 156:5.5 Aber ich möchte dich vor der Torheit warnen, Versuchungen durch das Bemühen überwinden zu wollen, mit bloßer menschlicher Willenskraft das eine Verlangen durch ein anderes, angeblich höher stehendes Verlangen zu verdrängen. Wenn du wirklich über die Versuchungen der geringeren und niedrigeren Natur triumphieren möchtest, musst du erst an jenen Punkt geistiger Überlegenheit gelangen, an dem du wirklich und wahrhaftig tatsächliches Interesse und Liebe für diese höheren und idealistischeren Formen der Lebensführung entwickelt hast, die dein Verstand an die Stelle der niedrigeren und weniger idealistischen Lebensgewohnheiten setzen möchte, welche du als Versuchungen erkennst. Auf diesem Weg wirst du durch geistige Wandlung erlöst werden, anstatt von der illusorischen Unterdrückung der menschlichen Begierden zunehmend belastet zu werden. Das Alte und Niedrigere wird in der Liebe zum Neuen und Höheren vergessen sein. Schönheit triumphiert immer über Hässlichkeit in den Herzen derer, die von der Liebe zur Wahrheit erleuchtet sind. Mächtig ist die eliminierende Energie einer neuen und aufrichtigen geistigen Liebe. Und noch einmal sage ich dir: Lass dich nicht vom Bösen überwältigen, sondern überwältige das Böse durch das Gute.“
(1739.1) 156:5.6 Bis spät in die Nacht hinein fuhren die Apostel und Evangelisten fort, Fragen zu stellen. Von den vielen Antworten möchten wir folgende Gedanken, in moderner Ausdrucksweise formuliert, vorlegen:
(1739.2) 156:5.7 Kräftiger Ehrgeiz, intelligentes Urteil und gereifte Weisheit sind die wesentlichen Voraussetzungen für materiellen Erfolg. Führerschaft hängt ab von natürlicher Anlage, Besonnenheit, Willenskraft und Entschlossenheit. Geistige Bestimmung hängt ab von Glauben, Liebe und Hingabe an die Wahrheit — Hunger und Durst nach Rechtschaffenheit — von dem aus tiefstem Herzen kommenden Wunsch, Gott zu finden und ihm zu gleichen.
(1739.3) 156:5.8 Lasst euch durch die Entdeckung, dass ihr menschlich seid, nicht entmutigen. Die menschliche Natur hat wohl Tendenzen zum Üblen, aber sie ist an sich nicht sündig. Seid nicht entmutigt, wenn es euch nicht ganz gelingt, einige eurer bedauerlichen Erfahrungen zu vergessen. Die Fehler, die ihr in der Zeit nicht vergessen könnt, werden in der Ewigkeit vergessen sein. Erleichtert eure Seelenbürden, indem ihr rasch einen Fernblick auf eure ewige Bestimmung gewinnt, euren Werdegang ins Universum hinausdenkt.
(1739.4) 156:5.9 Macht nicht den Fehler, die Seele nach den Unzulänglichkeiten des Verstandes oder nach den Begierden des Körpers zu bewerten. Verbietet euch, aufgrund einer einzigen unglücklichen menschlichen Begebenheit die Seele zu beurteilen oder ihre Bestimmung einzuschätzen. Eure geistige Bestimmung wird einzig durch eure geistigen Sehnsüchte und Ziele bedingt.
(1739.5) 156:5.10 Religion ist die ausschließlich geistige Erfahrung der sich entwickelnden unsterblichen Seele eines Menschen, der Gott kennt, aber sittliche Stärke und geistige Energie sind mächtige Kräfte, die im Umgang mit schwierigen sozialen Situationen und beim Lösen verwickelter wirtschaftlicher Probleme genutzt werden können. Diese sittlichen und geistigen Gaben machen alle Ebenen des menschlichen Lebens reicher und bedeutungsvoller.
(1739.6) 156:5.11 Ein enges und armseliges Leben ist euch beschieden, wenn ihr nur diejenigen lieben lernt, die euch lieben. Menschliche Liebe kann tatsächlich gegenseitig sein, aber göttliche Liebe ist bei all ihrem Suchen nach Befriedigung nach außen gerichtet. Je weniger Liebe in der Natur eines Geschöpfes, umso größer sein Bedarf an Liebe, und umso mehr trachtet die göttliche Liebe danach, diesen Bedarf zu befriedigen. Nie sucht die Liebe sich selbst, und sie kann sich nicht an sich selbst austeilen. Göttliche Liebe kann sich nicht auf sich selber beschränken; sie muss selbstlos verschenkt werden.
(1739.7) 156:5.12 Wer an das Königreich glaubt, sollte mit bedingungslosem Glauben und von ganzer Seele auf den sicheren Triumph der Rechtschaffenheit vertrauen. Wer am Königreich baut, darf keinen Zweifel an der Wahrheit des Evangeliums vom ewigen Heil haben. Gläubige müssen immer mehr lernen, sich von der Hektik des Lebens zurückzuziehen — den Belästigungen der materiellen Existenz zu entrinnen — um durch anbetende Versenkung die Seele zu erfrischen, das Denken zu inspirieren und den Geist zu erneuern.
(1739.8) 156:5.13 Menschen, die Gott kennen, lassen sich durch Missgeschick nicht entmutigen und durch Enttäuschungen nicht deprimieren. Gläubige sind immun gegen die durch rein materielle Umwälzungen verursachten Depressionen. Wer im Geiste lebt, wird durch die Ereignisse der materiellen Welt nicht aus dem Gleis geworfen. Anwärter auf das ewige Leben üben sich in einer kräftigenden und konstruktiven Methode, den Wechselfällen und Belästigungen des menschlichen Lebens zu begegnen. Mit jedem neuen Tag fällt es einem wahren gläubigen Menschen leichter, das Richtige zu tun.
(1740.1) 156:5.14 Das Leben im Geist steigert die wahre Selbstachtung erheblich. Aber Selbstachtung ist nicht Selbstbewunderung. Selbstachtung geht immer einher mit Liebe für unsere Mitmenschen und mit dem Dienst an ihnen. Eure Selbstachtung kann unmöglich größer sein als eure Liebe für euren Nächsten; die eine ist das Maß der Fähigkeit für die andere.
(1740.2) 156:5.15 Mit der Zeit wird jeder wahre Gläubige geschickter, seine Mitmenschen für die Liebe zur ewigen Wahrheit zu gewinnen. Seid ihr heute einfallsreicher als gestern, wenn ihr den Menschen Güte offenbaren wollt? Seid ihr in diesem Jahr ein besserer Fürsprecher der Rechtschaffenheit als letztes Jahr? Werdet ihr immer mehr zum Künstler in eurer Methode, dem geistigen Königreich hungrige Seelen zuzuführen?
(1740.3) 156:5.16 Sind eure Ideale hoch genug, um euer ewiges Heil sicherzustellen, und eure Ideen praktisch genug, um aus euch brauchbare Bürger zu machen, die auf Erden mit ihren sterblichen Gefährten zusammenarbeiten? Im Geiste seid ihr Bürger des Himmels; im Fleisch seid ihr immer noch Bürger der irdischen Königreiche. Gebt den Cäsaren die materiellen Dinge und Gott die geistigen.
(1740.4) 156:5.17 Das Maß für die geistige Kapazität der sich entwickelnden Seele ist euer Glaube an die Wahrheit und eure Liebe zu den Menschen, aber das Maß für eure menschliche Charakterstärke ist eure Fähigkeit, dem Groll zu widerstehen und euch in tiefem Leid nicht dem Trübsinn zu überlassen. Niederlagen sind der wahre Spiegel, in dem ihr euer wahres Selbst aufrichtig betrachten könnt.
(1740.5) 156:5.18 Werdet ihr mit zunehmendem Alter und größerer Erfahrung in den Angelegenheiten des Königreichs auch taktvoller im Umgang mit schwierigen Sterblichen und toleranter im Zusammenleben mit starrköpfigen Mitarbeitern? Takt ist der Angelpunkt für soziale Einflussnahme, und Toleranz ist das Kennzeichen einer großen Seele. Wenn ihr diese seltenen und gewinnenden Gaben besitzt, werdet ihr mit der Zeit wacher und erfahrener in eurem lohnenden Bemühen, alle unnötigen sozialen Missverständnisse zu vermeiden. Solche weisen Seelen sind imstande, manchen Schwierigkeiten auszuweichen, die mit Sicherheit das Los all derer sind, welche unter einem Mangel an emotionaler Anpassung leiden, welche sich weigern, erwachsen zu werden und sich dagegen sträuben, mit Würde alt zu werden.
(1740.6) 156:5.19 Vermeidet Unehrlichkeit und unfaires Vorgehen bei all eurem Bemühen, Wahrheit zu predigen und das Evangelium zu verkünden. Sucht keine ungerechtfertigte Anerkennung und sehnt euch nicht nach unverdienter Sympathie. Empfangt rückhaltlos Liebe aus göttlicher und menschlicher Quelle ungeachtet eurer Verdienste, und antwortet mit ebenso bedingungsloser Liebe. Aber bei allem, was mit Ehren und Verehrung zu tun hat, sucht nur, was euch ehrlich zusteht.
(1740.7) 156:5.20 Der gottbewusste Sterbliche ist der Errettung sicher; er hat keine Angst vor dem Leben; er ist ehrlich und unbeirrbar. Er weiß, wie man unvermeidliche Leiden tapfer erträgt; er beklagt sich nicht, wenn er in Not gerät, aus der es kein Entrinnen gibt.
(1740.8) 156:5.21 Der wahre Gläubige lässt in seinem Bemühen, Gutes zu tun, nicht ab, nur weil seine Pläne durchkreuzt werden. Schwierigkeit spornt den Eifer des Wahrheitsliebenden an, und Hindernisse fordern den ganzen Einsatz des Unverzagten heraus, der am Königreich baut.
(1740.9) 156:5.22 Und Jesus lehrte sie noch vieles andere, bevor sie sich zur Abreise von Tyrus bereitmachten.
(1740.10) 156:5.23 Am Tag bevor Jesus Tyrus verließ, um in die Gegend des Galiläischen Meeres zurückzukehren, rief er seine Mitarbeiter zusammen und wies die zwölf Evangelisten an, auf einer anderen als der von ihm und den Aposteln gewählten Route heimzukehren. Nachdem die Evangelisten hier Jesus verlassen hatten, waren sie nie wieder so eng mit ihm verbunden.
(1741.1) 156:6.1 Am Sonntag, dem 24. Juli um die Mittagsstunde, verließen Jesus und die Zwölf das Haus Josephs im Süden von Tyrus und gingen an der Küste entlang nach Ptolemaios. Dort verweilten sie einen Tag lang und sprachen Worte der Ermutigung zu der hier wohnenden Gruppe von Gläubigen. Petrus predigte zu ihnen am Abend des 25. Juli.
(1741.2) 156:6.2 Am Dienstag verließen sie Ptolemaios, wandten sich landeinwärts nach Osten und erreichten die Gegend von Jotapata über die Strasse nach Tiberias. Am Mittwoch hielten sie in Jotapata an und setzten die Unterweisung der Gläubigen in den Angelegenheiten des Königreichs fort. Am Donnerstag verließen sie Jotapata und gingen nach Norden über Rama auf dem von Nazareth zum Berg Libanon führenden Saumpfad bis zum Dorf Zebulun. In Rama hielten sie am Freitag Versammlungen ab und blieben den Sabbat über dort. In Zebulun langten sie am Sonntag, dem 31. Juli, an, hielten am gleichen Abend eine Versammlung ab und setzten am nächsten Morgen ihre Reise fort.
(1741.3) 156:6.3 Von Zebulun wanderten sie weiter, bis sie in der Nähe von Gischala die Verbindungsstrasse Magdala-Sidon erreichten, und von dort begaben sie sich nach Genezareth am Westufer des Galiläischen Meers südlich von Kapernaum, wo sie abgemacht hatten, sich mit David Zebedäus zu treffen, und wo sie beabsichtigten, miteinander den nächsten Schritt in der Verkündigungsarbeit des Evangeliums vom Königreich zu beratschlagen.
(1741.4) 156:6.4 Bei einer kurzen Besprechung mit David erfuhren sie, dass viele führende Gläubige jetzt am gegenüberliegenden Seeufer bei Kheresa versammelt waren, und so brachte ein Boot sie noch am selben Abend hinüber. Einen Tag lang pflegten sie in den Bergen der Ruhe. Am nächsten Tag gingen sie in den nahen Hain, wo der Meister die Fünftausend gespeist hatte. Hier blieben sie drei Tage lang und hielten täglich Zusammenkünfte ab, bei denen etwa fünfzig Männer und Frauen zugegen waren, der Rest der vormals zahlreichen Gruppe von Gläubigen, die in Kapernaum und Umgebung wohnten.
(1741.5) 156:6.5 Während Jesus von Kapernaum und Galiläa abwesend war und in Phönizien weilte, vermuteten seine Feinde, die ganze Bewegung sei in sich zusammengefallen, und kamen zu dem Schluss, dass Jesu hastiger Rückzug seine große Verängstigung zum Ausdruck bringe und er wahrscheinlich nie mehr zurückkehren und sie beunruhigen würde. Aller aktive Widerstand gegen seine Lehren hatte sich so ziemlich gelegt. Die Gläubigen begannen wieder, öffentliche Versammlungen abzuhalten, und es trat ein allmähliches, aber kräftiges Erstarken der geprüften und wahren Überlebenden des großen Aussiebens ein, das die Evangeliumgläubigen gerade durchlebt hatten.
(1741.6) 156:6.6 Philipp, der Bruder des Herodes, glaubte inzwischen halbherzig an Jesus und ließ wissen, dass der Meister frei sei, sich auf seinem Gebiet aufzuhalten und zu wirken.
(1741.7) 156:6.7 Der Befehl zur Schließung sämtlicher jüdischer Synagogen für Jesu Lehren und all seine Anhänger hatte sich für die Schriftgelehrten und Pharisäer nachteilig ausgewirkt. Unmittelbar nachdem Jesus sich als Stein des Anstoßes entfernt hatte, fand im ganzen jüdischen Volk eine Reaktion statt; es herrschte allgemeiner Unmut über die Pharisäer und die Führer des Sanhedrins in Jerusalem. Viele Synagogenleiter begannen heimlich, ihre Synagogen Abner und seinen Mitarbeitern zu öffnen, indem sie erklärten, diese Lehrer seien Anhänger des Johannes und nicht Jünger Jesu.
(1741.8) 156:6.8 Sogar Herodes Antipas erlebte einen Sinneswandel. Als er erfuhr, dass sich Jesus jenseits des Sees auf dem Territorium seines Bruders Philipp aufhielt, ließ er ihm die Nachricht zukommen, dass er zwar in Galiläa Haftbefehle für ihn unterzeichnet, aber damit nicht seine Verhaftung in Peräa verfügt habe, und ließ damit erkennen, dass Jesus keine Belästigung zu erwarten hatte, wenn er außerhalb Galiläas blieb; und er teilte den Juden in Jerusalem ebendiese Entscheidung mit.
(1742.1) 156:6.9 So lagen die Dinge um den 1. August des Jahres 29 herum, als der Meister von seiner Mission in Phönizien zurückkehrte und damit begann, seine zerstreuten, geprüften und dezimierten Kräfte für das letzte und bewegte Jahr seiner Erdensendung zu reorganisieren.
(1742.2) 156:6.10 Ein klarer Einsatzplan liegt vor, jetzt, da der Meister und seine Mitarbeiter sich anschicken, mit der Verkündigung einer neuen Religion zu beginnen, der Religion des Geistes des lebendigen Gottes, der im Verstand der Menschen wohnt.