(1657.1) 148:0.1 VOM 3. Mai bis zum 3. Oktober des Jahres 28 wohnten Jesus und die apostolische Gruppe im Haus des Zebedäus in Bethsaida. Während dieser fünf Monate der Trockenperiode unterhielten sie ein riesiges Lager am Seeufer nahe beim Haus des Zebedäus, das beträchtlich erweitert worden war, um die wachsende Familie von Jesus aufzunehmen. Eine ständig wechselnde Menge von Wahrheitssuchern, Heilungskandidaten und frommen Neugierigen bevölkerte das Lager am See, und ihre Zahl belief sich auf fünfhundert bis fünfzehnhundert. Die allgemeine Oberaufsicht über diese Zeltstadt oblag David Zebedäus, dem die Alphäus Zwillinge zur Seite standen. Das Lager war vorbildlich, was Ordnung, sanitäre Maßnahmen und allgemeine Leitung anbetraf. Die Leidenden waren nach Krankheiten voneinander abgesondert und wurden von einem gläubigen Arzt, einem Syrer namens Elman, betreut.
(1657.2) 148:0.2 In dieser Zeit gingen die Apostel mindestens an einem Tag in der Woche fischen. Den Fang verkauften sie David zum Verzehr im Lager am See. Die dabei erzielten Einnahmen wurden an die Gruppenkasse abgegeben. Die Zwölf hatten die Erlaubnis, jeden Monat eine Woche bei ihren Familien oder Freunden zu verbringen.
(1657.3) 148:0.3 Während die allgemeine Leitung der apostolischen Tätigkeit weiterhin in Andreas‘ Händen lag, war Petrus voll verantwortlich für die Schulung der Evangelisten. Jeden Vormittag trugen alle Apostel ihren Teil zum Unterricht der Evangelistengruppen bei, und Lehrer wie Schüler unterwiesen das Volk an den Nachmittagen. An fünf Abenden der Woche leiteten die Apostel nach dem Abendessen Fragestunden zur Förderung der Evangelisten. Einmal pro Woche hatte Jesus bei dieser Fragestunde den Vorsitz und beantwortete von vorausgegangenen Zusammenkünften aufgehobene Fragen.
(1657.4) 148:0.4 Im Laufe von fünf Monaten gingen mehrere tausend Menschen in diesem Lager ein und aus: Häufig waren interessierte Personen aus allen Gegenden des Römischen Reichs sowie aus den Ländern östlich des Euphrats anwesend. In des Meisters Lehrtätigkeit war dies die längste gut organisierte Periode mit festem Quartier. Jesu eigene Familie verbrachte den größten Teil dieser Zeit in Nazareth oder Kana.
(1657.5) 148:0.5 Das Lager wurde nicht wie die apostolische Familie als eine Gemeinschaft mit gemeinsamen Interessen geführt. David Zebedäus betrieb diese große Zeltstadt als ein eigenständiges Unternehmen, obwohl nie jemand abgewiesen wurde. Dieses sich ständig verändernde Lager war ein unentbehrlicher Bestandteil von Petrus‘ Schule zur Ausbildung der Evangelisten.
(1657.6) 148:1.1 Petrus, Jakobus und Andreas bildeten die von Jesus eingesetzte Kommission zur Beurteilung der Bewerber um Aufnahme in die Evangelistenschule. Alle Rassen und Nationen der römischen Welt und des Ostens bis hin nach Indien waren unter den Studenten dieser neuen Prophetenschule vertreten. Sie wurde nach dem Konzept des Lernens und Handelns geleitet. Was die Studenten am Vormittag lernten, lehrten sie am Nachmittag die am Seeufer Versammelten. Nach dem Abendessen diskutierten sie zwanglos über das am Vormittag Gelernte und das am Nachmittag Gelehrte.
(1658.1) 148:1.2 Jeder apostolische Lehrer lehrte seine persönliche Sicht vom Evangelium des Königreichs. Sie unternahmen keine Anstrengungen, um genau dasselbe zu lehren; es gab keine standardisierte oder dogmatische Formulierung von theologischen Lehrmeinungen. Obgleich alle dieselbe Wahrheit verkündigten, trug jeder Apostel seine eigene persönliche Interpretation der Unterweisung des Meisters vor. Und Jesus unterstützte dieses Einbringen verschiedenartiger persönlicher Erfahrungen in den Dingen des Königreichs, wobei er es nie unterließ, diese vielen unterschiedlichen Auffassungen des Evangeliums während seiner wöchentlichen Fragestunde zu harmonisieren und koordinieren. Trotz dieses großen Maßes an persönlicher Freiheit beim Unterrichten neigte Simon Petrus dazu, die Theologie der Evangelistenschule zu bestimmen. Nach Petrus übte Jakobus Zebedäus den größten persönlichen Einfluss aus.
(1658.2) 148:1.3 Die über hundert während dieser fünf Monate am See geschulten Evangelisten bildeten den Grundstock, dem (mit Ausnahme Abners und der Apostel des Johannes) später die siebzig Lehrer und Prediger des Evangeliums entnommen wurden. Die Evangelistenschule besaß nicht alles im selben Grade gemeinsam wie die Zwölf.
(1658.3) 148:1.4 Obgleich diese Evangelisten das Evangelium lehrten und predigten, tauften sie die Gläubigen erst, nachdem Jesus ihnen als den siebzig Botschaftern des Königreichs Weihe und Auftrag gegeben hatte. Von der großen Menge der an ebendiesem Ort bei Sonnenuntergang Geheilten fanden sich nur sieben unter den evangelistischen Studenten. Auch der Sohn jenes Vornehmen aus Kapernaum gehörte zu denen, die an der Schule des Petrus für den Dienst am Evangelium geschult wurden.
(1658.4) 148:2.1 In Verbindung mit dem Lager am See organisierte und leitete Elman, der syrische Arzt, vier Monate lang das, was als erstes Krankenhaus des Königreichs angesehen werden sollte. Unterstützt wurde er dabei von einer Gruppe von fünfundzwanzig jungen Frauen und zwölf Männern. In diesem Krankenhaus, das nur ein kurzes Wegstück nach Süden von der Zeltstadt entfernt lag, behandelten sie die Kranken entsprechend allen bekannten materiellen Methoden wie auch durch die geistigen Praktiken des Gebets und der Ermutigung zum Glauben. Jesus besuchte die Kranken dieses Lagers nicht weniger als dreimal in der Woche und trat in persönlichen Kontakt mit jedem Leidenden. So weit wir unterrichtet sind, ereigneten sich keine sogenannten übernatürlichen Wunderheilungen unter den eintausend geplagten und leidenden Menschen, die dieses Krankenhaus in gebessertem Zustand oder geheilt verließen. Trotzdem hörte die große Mehrheit der Personen, denen geholfen worden war, nicht auf zu verkünden, Jesus habe sie geheilt.
(1658.5) 148:2.2 Viele der Heilungen, die Jesus im Zusammenhang mit seiner Fürsorge für die Patienten Elmans erzielte, schienen tatsächlich Wundern zu gleichen, aber man hat uns belehrt, dass es sich dabei nur um solche Verwandlungen von Gemüt und Geist handelte, wie sie erwartungsvolle und vom Glauben beherrschte Personen erfahren können, die unter dem unmittelbaren und inspirierenden Einfluss einer starken, positiven und wohltuenden Persönlichkeit stehen, deren Hingabe Furcht bannt und Angst zerstört.
(1658.6) 148:2.3 Elman und seine Mitarbeiter bemühten sich, diesen Kranken die Wahrheit über die „Besessenheit durch böse Geister“ beizubringen, aber sie hatten damit wenig Erfolg. Der Glaube, dass physische Krankheit und Geistesgestörtheit durch die Gegenwart eines sogenannten unreinen Geistes im Gemüt oder Körper der leidenden Person verursacht werden könne, war nahezu universell.
(1659.1) 148:2.4 Was Behandlungsmethoden oder die Erklärung unbekannter Krankheitsursachen betraf, so ließ Jesus bei all seinen Kontakten mit Kranken und Leidenden nie die Anweisungen seines Paradies-Bruders Immanuel außer Acht, welche dieser ihm gegeben hatte, ehe er das Unternehmen seiner Inkarnation auf Urantia antrat. Dessen ungeachtet lernten all diejenigen, die die Kranken betreuten, manch hilfreiche Lektion bei der Beobachtung der Art, wie Jesus den Glauben und das Vertrauen der Kranken und Leidenden inspirierte.
(1659.2) 148:2.5 Das Lager wurde kurz vor Beginn der Jahreszeit, in der Erkältung und Fieber zunahmen, aufgelöst.
(1659.3) 148:3.1 In dieser ganzen Zeitspanne leitete Jesus weniger als ein dutzend Mal öffentliche Gottesdienste im Lager und sprach nur einmal in der Synagoge von Kapernaum, nämlich am zweitletzten Sabbat, bevor sie mit den neu geschulten Evangelisten zur zweiten öffentlichen Predigtrundreise durch Galiläa aufbrachen.
(1659.4) 148:3.2 Seit seiner Taufe war der Meister nie so oft allein gewesen wie während der Dauer des Schulungslagers für die Evangelisten bei Bethsaida. Wenn ein Apostel sich mit der Frage vorwagte, warum er in ihrer Mitte so oft fehle, gab Jesus ausnahmslos zur Antwort, „er kümmere sich um seines Vaters Angelegenheiten“.
(1659.5) 148:3.3 Während dieser Abwesenheiten wurde Jesus jeweils nur von zwei Aposteln begleitet. Er hatte Petrus, Jakobus und Johannes vorübergehend von ihrem Amt als seine persönlichen Gefährten entbunden, damit sie sich ebenfalls an der Ausbildungarbeit für die über hundert neuen evangeli-stischen Kandidaten beteiligen konnten. Wenn der Meister in seines Vaters Angelegenheiten in die Berge gehen wollte, forderte er zwei der Apostel, die gerade frei waren, auf, ihn zu begleiten. Auf diese Weise kam jeder der Zwölf in den Genuss enger Beziehung und naher Berührung mit Jesus.
(1659.6) 148:3.4 Obwohl es uns für den Zweck dieser Aufzeichnung nicht enthüllt worden ist, sind wir zu der Schlussfolgerung gelangt, dass der Meister während mancher dieser einsamen Zeiten in den Bergen mit vielen seiner wichtigsten Leiter der Universums-Angelegenheiten in direktem und führendem Kontakt stand. Ungefähr seit der Zeit seiner Taufe hatte sich der inkarnierte Herrscher unseres Universums immer aktiver und bewusster in die Leitung gewisser Phasen der Universums-Verwaltung eingeschaltet. Und wir haben immer die Meinung vertreten, dass er während dieser Wochen verminderter Teilnahme an irdischen Belangen in einer Weise, die er seinen unmittelbaren Gefährten nicht zu erkennen gab, die Führung jener hohen Intelligenzen wahrnahm, denen die Lenkung eines riesigen Universums oblag, und dass der menschliche Jesus solche Aktivitäten als „er kümmere sich um seines Vaters Angelegenheiten“ zu bezeichnen pflegte.
(1659.7) 148:3.5 Oft, wenn Jesus stundenlang allein war, aber zwei der Apostel in seiner Nähe weilten, beobachteten sie, wie sein Gesichtsausdruck raschem und mannigfaltigem Wechsel unterlag, obwohl sie ihn kein Wort sprechen hörten. Ebenso wenig beobachteten sie irgendwelche sichtbaren Erscheinungen von himmlischen Wesen, die mit ihrem Meister hätten in Verbindung stehen können, wie einige von ihnen sie bei einer späteren Gelegenheit sahen.
(1659.8) 148:4.1 Jesus hatte die Gewohnheit, jede Woche an zwei Abenden in einem abgelegenen und geschützten Winkel des Gartens des Zebedäus mit Einzelnen, die ihn zu sprechen wünschten, ein besonderes Gespräch zu führen. Bei einer dieser privaten abendlichen Unterhaltungen stellte Thomas dem Meister diese Frage: „Warum muss der Mensch aus dem Geist geboren werden, um ins Königreich einzutreten? Ist die Neugeburt notwendig, um der Kontrolle des Teufels zu entrinnen? Meister, was ist das Üble?“ Als Jesus diese Frage hörte, sprach er zu Thomas:
(1660.1) 148:4.2 Begeh nicht den Fehler, das Üble mit dem Teufel, besser: dem Frevler, zu verwechseln. Der, den ihr Teufel nennt, ist der Sohn der Eigenliebe, der hohe Administrator, der sich wissentlich und mit Vorsatz gegen die Herrschaft meines Vaters und seiner loyalen Söhne aufgelehnt hat. Aber ich habe diese sündigen Rebellen bereits besiegt. Werde dir klar über die verschiedenen Verhaltensweisen gegenüber dem Vater und seinem Universum, und vergiss diese Gesetze der Beziehung zum Willen des Vaters nie.
(1660.2) 148:4.3 Das Üble ist die unbewusste oder unbeabsichtigte Übertretung des göttlichen Gesetzes, des Willens des Vaters. Das Üble ist ebenfalls das Maß der Unvollkommenheit im Gehorsam gegenüber dem Willen des Vaters.
(1660.3) 148:4.4 Die Sünde ist die bewusste, wissende und vorsätzliche Übertretung des göttlichen Gesetzes, des Willens des Vaters. Die Sünde ist das Maß der Weigerung, sich göttlich führen und geistig ausrichten zu lassen.
(1660.4) 148:4.5 Der Frevel ist die willentliche, entschlossene und anhaltende Übertretung des göttlichen Gesetzes, des Willens des Vaters. Frevelhaftigkeit ist das Maß der fortgesetzten Ablehnung sowohl des liebevollen, das Fortleben der Persönlichkeit betreffenden Plans des Vaters als auch des barmherzigen Heilswirkens des Sohnes.
(1660.5) 148:4.6 Von Natur aus ist der sterbliche Mensch vor seiner Neugeburt aus dem Geiste den eingeborenen Tendenzen zum Üblen unterworfen, aber solche natürlichen Unvollkommenheiten des Verhaltens sind weder Sünde noch Frevel. Der sterbliche Mensch beginnt gerade erst seinen langen Aufstieg zur Vollkommenheit des Vaters im Paradies. Es ist nicht sündig, unvollkommen oder nur teilweise mit natürlichen Begabungen ausgestattet zu sein. Es ist wahr, dass der Mensch dem Üblen unterworfen ist, aber er ist in keiner Weise das Kind des Teufels, es sei denn, er habe wissentlich und vorsätzlich die Pfade der Sünde und ein Leben in der Frevelhaftigkeit gewählt. Das Üble wohnt der natürlichen Ordnung dieser Welt inne, Sünde hingegen ist eine Haltung bewusster Rebellion, welche jene in diese Welt gebracht haben, die vom geistigen Licht in tiefe Finsternis gefallen sind.
(1660.6) 148:4.7 Thomas, die Lehren der Griechen und die Irrtümer der Perser verwirren dich. Du verstehst die Beziehung zwischen Übel und Sünde nicht, weil die Menschheit in deinen Augen mit einem vollkommenen Adam begonnen hat und durch Sünde rasch zum gegenwärtigen beklagenswerten Zustand abgesunken ist. Aber warum sträubst du dich, die Bedeutung jener Schriftstelle zu erfassen, die verrät, wie Kain, Adams Sohn, in das Land Nods hinüberging und sich dort eine Frau holte? Und warum lehnst du es ab, die Bedeutung jener Stelle zu interpretieren, die berichtet, wie die Söhne Gottes unter den Töchtern der Menschen ihre Frauen fanden?
(1660.7) 148:4.8 Die Menschen sind tatsächlich von Natur aus schlecht, aber nicht notwendigerweise sündhaft. Die neue Geburt — die Taufe durch den Geist — ist unentbehrlich für die Befreiung vom Üblen und notwendig zum Eintritt ins Königreich, aber nichts von alledem beeinträchtigt die Tatsache, dass der Mensch Gottes Sohn ist. Ebenso wenig bedeutet diese inhärente Gegenwart potentiellen Übels, dass der Mensch sich auf irgendeine mysteriöse Weise seinem Vater im Himmel entfremdet hat und nun als Fremdling, Ausländer oder Stiefkind beim Vater gewissermaßen um legale Adoption nachsuchen muss. Alle derartigen Ansichten sind erstens eurer irrigen Vorstellung vom Vater, und zweitens eurer Unkenntnis von Ursprung, Natur und Bestimmung des Menschen zuzuschreiben.
(1660.8) 148:4.9 Die Griechen und andere haben euch gelehrt, dass der Mensch von göttlicher Perfektion stetig herabsteigt, dem Vergessen oder der Zerstörung entgegen; ich bin gekommen, um zu zeigen, dass der Mensch durch seinen Eintritt in das Königreich gewiss und sicher zu Gott und zu göttlicher Vollkommenheit emporsteigt. Jedes Wesen, das in irgendeiner Weise hinter den göttlichen und geistigen Idealen des Willens des ewigen Vaters zurückbleibt, ist potentiell schlecht, aber solche Wesen sind in keiner Hinsicht sündhaft und noch weniger frevelhaft.
(1661.1) 148:4.10 Thomas, hast du denn darüber nichts in der Schrift gelesen, wo geschrieben steht: ‚Ihr seid die Kinder des Herrn eures Gottes.‘ ‚Ich will sein Vater sein, und er soll mein Sohn sein.‘ ‚Ich habe ihn zu meinem Sohn erwählt — ich will sein Vater sein.‘ ‚Bringt meine Söhne von weit her und meine Töchter von der ganzen Welt und auch alle, die meinen Namen tragen; denn ich habe sie zu meinem Ruhm erschaffen.‘ ‚Ihr seid die Söhne des lebendigen Gottes.‘ ‚Die den Geist Gottes haben, sind wahrhaftig die Söhne Gottes.‘ So wie ein materieller Teil des menschlichen Vaters im natürlichen Kind lebt, lebt auch ein geistiger Teil des Himmlischen Vaters in jedem gläubigen Sohn des Königreichs.“
(1661.2) 148:4.11 Das und noch vieles mehr sagte Jesus zu Thomas, und der Apostel verstand vieles davon. Doch Jesus ermahnte ihn: „Sprich mit den anderen nicht eher über dieses Thema, als bis ich zum Vater zurückgekehrt bin.“ Und Thomas erwähnte diese Unterredung nie, bis der Meister von dieser Welt gegangen war.
(1661.3) 148:5.1 Bei einer anderen dieser privaten Unterhaltungen im Garten fragte Nathanael Jesus: „Meister, obgleich ich zu begreifen beginne, wieso du dich weigerst, unterschiedslos zu heilen, kann ich immer noch nicht verstehen, wieso der liebende Vater im Himmel es zulässt, dass so viele seiner Kinder auf Erden so viel leiden müssen.“ Der Meister antwortete Nathanael Folgendes:
(1661.4) 148:5.2 „Nathanael, du und viele andere seid so betroffen, weil ihr nicht versteht, wie sehr und wie oft die natürliche Ordnung dieser Welt durch die sündigen Abenteuer gewisser Verräter, die sich gegen den Willen des Vaters auflehnten, aus dem Gleichgewicht geworfen worden ist. Ich bin gekommen, um damit zu beginnen, diese Dinge in Ordnung zu bringen. Aber es wird vieler Zeitalter bedürfen, um diesen Teil des Universums auf seine früheren Pfade zurückzubringen und dadurch die Menschenkinder von den zusätzlichen Bürden der Sünde und Rebellion zu befreien. Die Gegenwart des Üblen allein ist als Test für das Emporsteigen des Menschen ausreichend — es bedarf zum Fortleben nicht unbedingt noch der Sünde.
(1661.5) 148:5.3 Aber du solltest wissen, mein Sohn, dass der Vater seine Kinder nicht absichtlich mit Leid plagt: Der Mensch bringt unnötiges Leid über sich selbst infolge seiner hartnäckigen Weigerung, auf den besseren Pfaden des göttlichen Willens zu wandeln. Das Leid ist potentiell im Üblen enthalten, aber eine große Menge davon ist durch Sünde und Frevel entstanden. Viele ungewöhnliche Geschehnisse haben sich auf dieser Welt abgespielt, und es ist nicht verwunderlich, dass alle denkenden Menschen beim Anblick des Leidens und der Betrübnis, die sich ihnen darbieten, bestürzt sind. Aber einer Sache kannst du sicher sein: Der Vater schickt kein Leid als willkürliche Bestrafung für übles Tun. Die Unvollkommenheiten und Behinderungen wohnen dem Üblen inne; die Bestrafung der Sünde ist unvermeidlich, und die zerstörerischen Konsequenzen des Frevels sind unerbittlich. Der Mensch sollte Gott nicht wegen jener Leiden tadeln, die nur das natürliche Resultat der von ihm gewählten Lebensführung sind. Ebenso wenig sollte er sich über jene Erfahrungen beklagen, die zum Leben gehören, wie es auf dieser Welt gelebt wird. Es ist des Vaters Wille, dass der Mensch beharrlich und konsequent an der Verbesserung seiner Lage auf Erden arbeite. Intelligentes Bemühen würde den Menschen befähigen, einen großen Teil seines irdischen Elends zu überwinden.
(1662.1) 148:5.4 Nathanael, es ist unsere Sendung, den Menschen bei der Lösung ihrer geistigen Probleme zu helfen und dadurch ihr Denken zu beleben, damit sie besser vorbereitet und inspiriert an die Lösung ihrer mannigfaltigen materiellen Probleme herangehen mögen. Ich weiß, dass euch verwirrt, was ihr in den Schriften gelesen habt. Allzu oft hat die Tendenz überwogen, Gott die Verantwortung für alles zuzuschreiben, was unwissende Menschen nicht zu begreifen vermögen. Der Vater ist nicht persönlich verantwortlich für alles, was ihr vielleicht nicht verstehen könnt. Zweifelt nicht an der Liebe des Vaters, nur weil eines der von ihm verfügten gerechten und weisen Gesetze euch leiden macht, nachdem ihr unschuldigerweise oder mit Vorsatz eine solche göttliche Verordnung übertreten habt.
(1662.2) 148:5.5 Aber in den Schriften steht vieles, Nathanael, was dich belehrt hätte, wenn du es mit Scharfblick gelesen hättest. Erinnerst du dich nicht, dass geschrieben steht: ‚Mein Sohn, verachte nicht die Züchtigung durch den Herrn und sei seiner Zurechtweisung nicht überdrüssig; denn wen der Herr liebt, den weist er zurecht, so wie auch der Vater den Sohn, an dem er Freude hat, zurechtweist.‘ ‚Der Herr schickt nur ungern Leid.‘ ‚Bevor mir Leid widerfuhr, kam ich auf Abwege, aber jetzt halte ich das Gesetz ein. Das Leid war gut für mich, damit ich die göttlichen Satzungen kennen lernte.‘ ‚Ich kenne euren Kummer. Der ewige Gott ist eure Zuflucht, und er trägt euch allezeit auf seinen Armen.‘ ‚Der Herr ist auch ein Zufluchtsort für die Bedrückten, ein Hafen der Ruhe in schwierigen Zeiten.‘ ‚Der Herr wird ihn stärken auf dem Bett des Leidens; der Herr wird die Kranken nicht vergessen.‘ ‚Wie ein Vater seinen Kindern Erbarmen zeigt, so erbarmt sich der Herr auch jener, die ihn fürchten. Er kennt euren Körper; er vergisst nicht, dass ihr Staub seid.‘ ‚Er heilt, die gebrochenen Herzens sind, und verbindet ihre Wunden.‘ ‚Er ist die Hoffnung des Armen, die Kraft des Bedürftigen in seiner Not, eine Zuflucht vor dem Sturm und ein Schatten in der sengenden Hitze.‘ ‚Er verleiht den Ermatteten Stärke und den Ohnmächtigen wachsende Kraft.‘ ‚Ein gequetschtes Schilfrohr wird er nicht brechen, noch den rauchenden Docht auslöschen.‘ ‚Wenn ihr durch die Wasser der Betrübnis schreitet, werde ich bei euch sein, und wenn die Wogen des Unglücks über euch zusammenschlagen, werde ich euch nicht verlassen.‘ ‚Er hat mich gesandt zu festigen, die gebrochenen Herzens sind, den Gefangenen die Freiheit zu verkünden und alle Leidtragenden zu trösten.‘ ‚Im Leiden ist Zurechtweisung; das Leid entspringt nicht dem Staub.‘“
(1662.3) 148:6.1 Am gleichen Abend in Bethsaida fragte auch Johannes Jesus, weshalb so viele anscheinend unschuldige Menschen an so vielen Krankheiten litten und so große Leiden durchmachten. In Beantwortung der Frage des Johannes sagte der Meister unter vielem anderen:
(1662.4) 148:6.2 „Mein Sohn, du begreifst den Sinn des Unglücks oder die Aufgabe des Leidens nicht. Hast du jenes Meisterstück semitischer Literatur — die Erzählung der Leiden Hiobs in den Schriften — nicht gelesen? Entsinnst du dich nicht des Anfangs jenes wunderbaren Gleichnisses, wo der materielle Wohlstand des Dieners des Herrn geschildert wird? Du erinnerst dich, dass Hiob mit Kindern, Reichtum, Würden, Stellung, Gesundheit und mit allem gesegnet war, dem die Menschen in diesem irdischen Leben Wert beimessen. Nach den altehrwürdigen Lehren der Kinder Abrahams war solch ein materieller Wohlstand ein unzweifelhaftes Zeichen göttlicher Gunst. Aber solch materieller Besitz und irdischer Wohlstand ist kein Beweis für die Gunst Gottes. Mein Vater im Himmel liebt die Armen genau so sehr wie die Reichen; er kennt kein Ansehen der Person.
(1663.1) 148:6.3 Obgleich der Übertretung des göttlichen Gesetzes früher oder später die Ernte der Bestrafung folgt und die Menschen schließlich mit Sicherheit ernten, was sie gesät haben, solltest du doch wissen, dass menschliches Leiden nicht immer eine Strafe für vorausgegangene Sünden ist. Weder Hiob noch seinen Freunden gelang es, die wahre Antwort auf ihre Verwirrtheit zu finden. Und dank dem Licht, dessen du dich jetzt erfreust, würdest du kaum Satan oder Gott die Rollen zuschreiben, die sie in diesem einzigartigen Gleichnis spielen. Obwohl Hiob durch das Leiden keine Lösung seiner intellektuellen Probleme und philosophischen Schwierigkeiten fand, so errang er doch große Siege; und selbst angesichts des Zusammenbruchs seiner theologischen Verteidigung stieg er zu jenen geistigen Höhen auf, wo er ehrlich sagen konnte: ‚Ich verabscheue mich selbst.‘ Und da wurde ihm das Heil einer Gottesvision zuteil. Also stieg Hiob sogar durch falsch ausgelegtes Leiden zu der übermenschlichen Ebene sittlichen Verständnisses und geistiger Erkenntnis empor. Auf eine Gottesvision, die einem leidenden Diener zuteil wird, folgt ein Seelenfriede, der alles menschliche Verstehen übersteigt.
(1663.2) 148:6.4 Eliphas, der erste von Ijobs Freunden, ermahnte den Leidenden, in seinen Heimsuchungen dieselbe Seelenstärke an den Tag zu legen, die er selber anderen zur Zeit seines Wohlergehens empfohlen hatte. Dieser falsche Tröster sprach: ‚Habe in deine Religion Vertrauen, Hiob; denke daran, dass es die Gottlosen sind, die leiden, und nicht die Gerechten. Sicher verdienst du diese Bestrafung, sonst müsstest du nicht leiden. Du weißt wohl, dass in Gottes Augen kein Mensch gerecht sein kann. Du weißt, dass die Bösen nie wirklich gedeihen. Wie dem auch sei, der Mensch scheint für Schwierigkeiten vorherbestimmt zu sein, und vielleicht züchtigt der Herr dich nur zu deinem eigenen Guten.‘ Kein Wunder, dass der arme Hiob aus einer derartigen Interpretation des Problems menschlichen Leidens nicht viel Trost schöpfte.
(1663.3) 148:6.5 Aber der Rat seines zweiten Freundes, Bildads, war noch niederschmetternder, wenn auch folgerichtig aus der Sicht der damals gültigen Theologie. Bildad sagte: ‚Gott kann nicht ungerecht sein. Deine Kinder müssen Sünder gewesen sein, da sie umgekommen sind; du musst im Irrtum sein, sonst würdest du nicht dermaßen von Leid geprüft. Wenn du aber wirklich rechtschaffen bist, wird Gott dich bestimmt von deinen Leiden befreien. Du solltest aus der Geschichte der Beziehungen Gottes zu den Menschen lernen, dass der Allmächtige nur die Gottlosen vernichtet.‘
(1663.4) 148:6.6 Erinnere dich, was Hiob seinen Freunden darauf zur Antwort gab: ‚Ich weiß wohl, dass Gott meinen Hilfeschrei nicht hört. Wie kann Gott gerecht sein und zugleich meine Unschuld so ganz und gar verkennen? Ich mache die Erfahrung, dass meine Anrufung des Allmächtigen mir keine Genugtuung bringt. Seht ihr nicht, dass Gott die Verfolgung der Guten durch die Niederträchtigen zulässt? Und was für Aussicht hat der Mensch bei seiner ganzen Schwäche auf Beachtung seitens eines allmächtigen Gottes? Gott hat mich so gemacht, wie ich bin, und wenn er sich in dieser Weise gegen mich wendet, bin ich schutzlos. Warum hat er mich überhaupt erschaffen, nur um mich so elendiglich leiden zu lassen?‘
(1663.5) 148:6.7 Wer wollte Hiobs Haltung angesichts der Ratschläge seiner Freunde und seiner eigenen irrigen Vorstellungen über Gott anfechten? Siehst du nicht, dass Hiob sich nach einem menschlichen Gott sehnte, dass ihn danach verlangte, mit einem göttlichen Wesen in Verbindung zu treten, welches den sterblichen Zustand des Menschen kennt und versteht, dass der Gerechte oft unschuldigerweise leiden muss und dass dieses Leiden zu seinem ersten Leben beim langen Aufstieg zum Paradies gehört? Dazu ist der Menschensohn vom Vater gekommen: ein ebensolches Dasein im Fleisch zu leben, um dadurch in der Lage zu sein, all jenen Trost und Hilfe zu spenden, die künftig aufgerufen sind, Ijobs Leiden durchzumachen.
(1663.6) 148:6.8 Hiobs dritter Freund Zophar schließlich sprach noch weniger tröstliche Worte, als er sagte: ‚Es ist töricht von dir, angesichts deines Elends den Anspruch zu erheben, rechtschaffen zu sein. Aber ich gebe zu, dass es unmöglich ist, Gottes Wege zu begreifen. Vielleicht liegt in all deinen Leiden ein verborgener Zweck.‘ Und nachdem Hiob allen drei seiner Freunde zugehört hatte, wandte er sich direkt an Gott um Hilfe, wobei er sich auf die Tatsache berief, dass der Mensch, vom Weibe geboren, nur kurz lebt und bitteres Ungemach erleidet.‘
(1664.1) 148:6.9 Hierauf begann die zweite Unterredung mit seinen Freunden. Eliphas wurde strenger, anklagender und sarkastischer, Bildad empörte sich über Hiobs Geringschätzung seiner Freunde, und Zophar wiederholte seine melancholischen Ratschläge. Da wandte sich Hiob, angewidert von seinen Freunden, wieder an Gott, aber diesmal rief er einen gerechten Gott an im Gegensatz zu dem Gott der Ungerechtigkeit, wie er in der Philosophie seiner Freunde und sogar in seiner eigenen religiösen Haltung verkörpert war. Und dann rettete sich Hiob in die tröstende Aussicht auf ein zukünftiges Leben, in welchem das im irdischen Dasein erlittene Unrecht in billigerer Weise korrigiert würde. Das Unvermögen, menschliche Hilfe zu erhalten, führt Hiob zu Gott. Aber dann hebt in seinem Herzen der große Kampf zwischen Glauben und Zweifel an. Endlich beginnt der menschliche Dulder das Licht des Lebens zu sehen. Seine gepeinigte Seele schwingt sich zu neuen Höhen der Hoffnung und des Mutes auf. Er mag nun weiter leiden und sogar sterben; aber seine erleuchtete Seele ruft jetzt triumphierend: ‚Mein Rechtfertiger lebt!‘
(1664.2) 148:6.10 Hiob hatte ganz und gar recht, als er die Lehre anzweifelte, Gott bringe Leiden über die Kinder, um ihre Eltern zu bestrafen. Hiob war immer bereit anzuerkennen, dass Gott gerecht ist, aber er sehnte sich nach einer für die Seele befriedigenden Offenbarung des persönlichen Charakters des Ewigen. Und genau das ist unsere Sendung auf Erden. Nie wieder soll leidenden Sterblichen die Wohltat verwehrt sein, die Liebe Gottes zu erfahren und um die Barmherzigkeit des Vaters im Himmel zu wissen. Gottes Wort, aus dem Wirbelwind gesprochen, war in jenen Tagen, da es geäußert wurde, eine majestätische Vorstellung; aber du hast schon gelernt, dass der Vater sich nicht in dieser Weise offenbart, sondern eher mit einer stillen, leisen Stimme im menschlichen Herzen spricht: ‚Das ist der Weg, folge ihm.‘ Verstehst du nicht, dass Gott in dir wohnt, dass er geworden ist, was du bist, damit er dich zu dem machen kann, was er ist!“
(1664.3) 148:6.11 Und abschließend erklärte Jesus: „Der Vater im Himmel sucht die Menschenkinder nicht willentlich heim. Die Menschen leiden erstens unter den Wechselfällen der Zeit und dem Übel der Unvollkommenheiten einer unreifen physischen Existenz. Sodann leiden sie an den unerbittlichen Folgen der Sünde — der Überschreitung der Gesetze des Lebens und des Lichts. Und schließlich ernten die Menschen die Früchte ihres eigenen frevlerischen Verharrens in der Auflehnung gegen die gerechte Herrschaft des Himmels auf Erden. Aber die Nöte des Menschen sind keine persönliche Heimsuchung durch das göttliche Gericht. Die Menschen können und werden viel zur Verminderung ihrer zeitlichen Leiden unternehmen. Aber mache dich ein für allemal von dem Aberglauben frei, Gott suche die Menschen auf Geheiß des Teufels heim. Vertiefe dich in das Buch Hiob, um gerade darin zu entdecken, wie viele irrige Vorstellungen von Gott auch gute Menschen in aller Redlichkeit haben; und dann beachte, wie sogar dieser schmerzbeladene Hiob trotz derartiger Irrlehren den Gott des Trostes und der Rettung gefunden hat. Schließlich durchdrang sein Glaube die Wolken des Leids und nahm das Licht des Lebens wahr, welches vom Vater ausgeht als ein Strom heilender Gnade und immerwährender Gerechtigkeit.“
(1664.4) 148:6.12 Viele Tage lang sann Johannes in seinem Herzen über diese Worte nach. Sein ganzes späteres Leben wurde infolge dieser Unterhaltung mit dem Meister im Garten merklich verändert, und er tat später viel, um auch die anderen Apostel dazu zu bewegen, ihre Anschauungen über Ursprung, Wesen und Zweck gewöhnlicher menschlicher Leiden zu ändern. Nie jedoch erwähnte er dieses Gespräch bis nach dem Hinschied des Meisters.
(1664.5) 148:7.1 Am vorletzten Sabbat vor dem Aufbruch der Apostel und des neuen Evangelistenkorps zur zweiten Predigtrundreise durch Galiläa sprach Jesus in der Synagoge von Kapernaum über „die Freuden eines Lebens in Rechtschaffenheit“. Nachdem er geendet hatte, versammelte sich eine große Schar von Krüppeln, Lahmen, Kranken und Elenden um ihn, die nach Heilung suchten. In der Menge befanden sich auch die Apostel, viele der neuen Evangelisten und die pharisäischen Spione aus Jerusalem. Wohin sich Jesus auch immer begab (außer er ging in den Bergen den Angelegenheiten seines Vaters nach), folgten ihm mit Sicherheit die sechs Spitzel aus Jerusalem.
(1665.1) 148:7.2 Während Jesus mit den Leuten sprach, stiftete der Anführer der spionierenden Pharisäer einen Mann mit einer verdorrten Hand an, sich Jesus zu nähern und ihn zu fragen, ob es gesetzlich sei, am Sabbat geheilt zu werden, oder ob er an einem anderen Tag um Hilfe nachsuchen solle. Als Jesus den Mann sah, seine Worte vernahm und begriff, dass die Pharisäer ihn gesandt hatten, sagte er: „Tritt näher, damit ich dich etwas fragen kann. Wenn du ein Schaf besäßest und es an einem Sabbattag in eine Grube fiele, würdest du dann hinablangen, es packen und herausholen? Ist es gesetzlich, so etwas an einem Sabbattag zu tun?“ Und der Mann antwortete: „Ja, Meister, es wäre gesetzlich, auf diese Weise an einem Sabbattag Gutes zu tun.“ Da wandte sich Jesus an alle und sprach: „Ich weiß, weshalb ihr diesen Mann zu mir geschickt habt. Ihr würdet in mir einen Grund zur Anklage finden, wenn ihr mich dazu verleiten könntet, an einem Sabbattag Barmherzigkeit zu üben. Ihr alle habt mir stillschweigend beigepflichtet, dass es gesetzlich ist, das unglückliche Schaf aus der Grube herauszuholen, sogar an einem Sabbat, und ich rufe euch alle zu Zeugen dafür auf, dass es gesetzlich ist, am Sabbattag nicht nur Tieren, sondern auch Menschen Liebe und Güte zu erweisen. Wie viel kostbarer ist ein Mensch als ein Schaf! Ich verkündige, dass es gesetzlich ist, den Menschen am Sabbattag Gutes zu tun.“ Als alle schweigend vor ihm standen, wandte sich Jesus wieder dem Mann mit der verdorrten Hand zu und sprach: „Steh auf, hier neben mir, damit alle dich sehen können. Und jetzt, damit du weißt, dass es meines Vaters Wille ist, dass du am Sabbattag Gutes tust, und wenn du den Glauben hast, geheilt zu werden, gebiete ich dir, deine Hand auszustrecken.“
(1665.2) 148:7.3 Und als der Mann seine verdorrte Hand ausstreckte, wurde sie gesund. Die Leute machten Miene, sich gegen die Pharisäer zu wenden, aber Jesus gebot ihnen Ruhe und sprach: „Eben habe ich euch gesagt, dass es gesetzlich ist, am Sabbat Gutes zu tun und Leben zu retten, aber ich habe euch nicht aufgefordert, jemandem etwas anzutun und dem Wunsch zu töten nachzugeben.“ Zornig gingen die Pharisäer weg, und obgleich es ein Sabbattag war, eilten sie unverzüglich nach Tiberias und berieten sich mit Herodes. Sie unternahmen alles in ihrer Macht Stehende, um seinen Argwohn zu wecken und sich der Herodianer als Verbündeter gegen Jesus zu versichern. Herodes jedoch weigerte sich, gegen Jesus vorzugehen und riet ihnen, ihre Klagen in Jerusalem vorzubringen.
(1665.3) 148:7.4 Dies ist der erste Fall eines Wunders, das Jesus als Antwort auf die Herausforderung seiner Feinde tat. Und der Meister vollbrachte dieses sogenannte Wunder nicht zur Demonstration seiner Macht zu heilen, sondern als wirksamen Protest dagegen, aus der religiösen Sabbatruhe eine wahre Knechtschaft sinnloser Einschränkungen für alle Menschen zu machen. Der Mann aber kehrte zu seiner Arbeit als Steinmetz zurück und erwies sich als einer von jenen, auf deren Heilung ein Leben in Dankbarkeit und Rechtschaffenheit folgte.
(1665.4) 148:8.1 In der letzten Woche des Aufenthaltes in Bethsaida entstand bei den Spionen aus Jerusalem in ihrer Haltung gegenüber Jesus und seinen Lehren eine tiefe Spaltung. Drei dieser Pharisäer waren sehr stark beeindruckt von dem, was sie gesehen und gehört hatten. Unterdessen hatte Abraham, ein junges und einflussreiches Mitglied des Sanhedrin, sich öffentlich für die Lehren Jesu eingesetzt und war von Abner im Teich von Siloa getauft worden. Ganz Jerusalem geriet durch dieses Ereignis in Aufruhr, und Botschafter wurden sofort nach Bethsaida geschickt, um die sechs spionierenden Pharisäer zurückzurufen.
(1666.1) 148:8.2 Der griechische Philosoph, der auf der vorigen Predigtreise durch Galiläa für das Königreich gewonnen worden war, kehrte mit gewissen reichen Juden von Alexandrien zurück, und sie luden Jesus wiederum ein, in ihre Stadt zu kommen und dort eine gemeinsame Schule für Philosophie und Religion sowie ein Krankenhaus zu gründen. Aber Jesus lehnte die Einladung höflich ab.
(1666.2) 148:8.3 Etwa zu dieser Zeit langte im Lager von Bethsaida ein ekstatischer Prophet aus Bagdad namens Kirmeth an. Dieser angebliche Prophet hatte seltsame Visionen, wenn er in Trance war, und phantastische Träume, wenn er einen unruhigen Schlaf hatte. Er sorgte für einen beträchtlichen Wirbel im Lager, und Simon Zelotes war dafür, mit dem sich selbst etwas vormachenden Heuchler unzimperlich zu verfahren, aber Jesus trat dazwischen und gewährte ihm einige Tage völliger Handlungsfreiheit. Alle, die ihn predigen hörten, erkannten bald, dass seine Lehre im Lichte des Evangeliums des Königreichs ungesund war. Er kehrte kurze Zeit später nach Bagdad zurück und nahm nur ein halbes Dutzend instabiler und unberechenbarer Seelen mit sich. Aber noch ehe sich Jesus für den Propheten aus Bagdad einschalten konnte, war David Zebedäus, unterstützt von einem selbsternannten Ausschuss, mit Kirmeth auf den See hinausgefahren, hatte ihn mehrmals ins Wasser getaucht und ihm dann dringend geraten, sofort abzureisen und sein eigenes Lager zu organisieren und aufzubauen.
(1666.3) 148:8.4 Am selben Tag wurde Beth-Marion, eine phönizische Frau, so fanatisch, dass sie überschnappte und bei dem Versuch, auf dem Wasser zu gehen, beinahe ertrunken wäre, worauf ihre Freunde sie wegschickten.
(1666.4) 148:8.5 Der frischbekehrte Pharisäer Abraham aus Jerusalem übergab der apostolischen Kasse seinen ganzen weltlichen Besitz, und diese Schenkung half sehr, die sofortige Aussendung der einhundert eben erst ausgebildeten Evangelisten zu ermöglichen. Andreas hatte bereits die Schließung des Lagers bekannt gegeben, worauf sich alle anschickten, entweder nach Hause zurückzukehren oder den Evangelisten nach Galiläa zu folgen.
(1666.5) 148:9.1 Am 1. Oktober, einem Freitagnachmittag, als Jesus mit den Aposteln, Evangelisten und anderen Leitern des in Auflösung begriffenen Lagers sein letztes Treffen abhielt, wobei die sechs Pharisäer aus Jerusalem in der vordersten Reihe dieser Versammlung im weiten, vergrößerten Vorderraum des Hauses des Zebedäus saßen, trug sich eines der seltsamsten und außerordentlichsten Ereignisse im ganzen Erdenleben Jesu zu. Der Meister sprach stehend in diesem großen Raum, der eigens gebaut worden war, um solche Versammlungen während der Regenzeit aufzunehmen. Das Haus war völlig umstellt von einer großen Menschenansammlung, und die Leute lauschten angestrengt, um einiges von Jesu Rede aufzufangen.
(1666.6) 148:9.2 Während das Haus derartig mit Leuten voll gestopft und ganz von begierigen Zuhörern umringt war, wurde ein seit langem gelähmter Mann auf einer kleinen Liege von seinen Freunden von Kapernaum herabgetragen. Dieser Gelähmte hatte erfahren, dass Jesus im Begriff war, Bethsaida zu verlassen, und nach einem Gespräch mit dem Steinmetzen Aaron, der erst vor kurzem geheilt worden war, beschloss er, sich vor Jesus tragen zu lassen, bei dem er Heilung suchen wollte. Seine Freunde versuchten, sich durch die Vorder- und Hintereingänge Zutritt zum Hause des Zebedäus zu verschaffen, aber zu dicht drängten sich überall die Menschen. Der Gelähmte jedoch gab sich nicht geschlagen. Er wies seine Freunde an, sich Leitern zu verschaffen, auf welchen sie das Dach über dem Raum, in dem Jesus gerade sprach, bestiegen. Dort machten sie die Ziegel los, und verwegen ließen sie den kranken Mann an Stricken auf seiner Liege hinunter, bis der Geplagte unmittelbar auf dem Boden vor dem Meister zu liegen kam. Als Jesus sah, was sie getan hatten, hörte er auf zu sprechen, und alle, die mit ihm im Raum waren, staunten über die Beharrlichkeit des kranken Mannes und seiner Freunde. Der Gelähmte sprach: „Meister, ich würde deine Rede lieber nicht unterbrechen, aber ich bin entschlossen, geheilt zu werden. Ich bin nicht wie jene, die Heilung empfangen und deine Lehre sofort vergessen haben. Ich möchte geheilt werden, um im Königreich des Himmels dienen zu können.“ Obwohl die Krankheit durch sein eigenes vergeudetes Leben über diesen Mann gekommen war, sagte Jesus zu dem Gelähmten, dessen Glauben er wahrnahm: „Mein Sohn, fürchte dich nicht; deine Sünden sind dir vergeben. Dein Glaube wird dich retten.“
(1667.1) 148:9.3 Als die Pharisäer aus Jerusalem, die mit anderen Schriftgelehrten und Gesetzeskundigen zusammensaßen, Jesus so sprechen hörten, sagten sie zueinander: „Wie wagt dieser Mann, so zu sprechen? Begreift er nicht, dass solche Worte Gotteslästerung sind? Wer außer Gott kann Sünden vergeben?“ Jesus nahm in seinem Geiste wahr, dass sie in ihrem Inneren und untereinander solche Überlegungen anstellten, und so wandte er sich mit folgenden Worten an sie: „Warum denkt ihr solches in euren Herzen? Wer seid ihr, um über mich zu Gericht zu sitzen? Was macht es für einen Unterschied, ob ich zu diesem Gelähmten sage ‚deine Sünden sind dir vergeben‘ oder ‚steh auf, nimm dein Bett und geh‘? Aber damit ihr, die ihr Zeuge all dessen seid, endlich wisst, dass der Menschensohn auf Erden die Autorität und Macht besitzt, Sünden zu vergeben, will ich zu diesem geplagten Mann sagen: Steh auf, nimm dein Bett, und geh nach Hause.“ Und nachdem Jesus diese Worte gesprochen hatte, erhob sich der Gelähmte, man gab ihm den Weg frei, und er schritt vor ihrer aller Augen hinaus. Und alle staunten über die Dinge, die sie sahen. Petrus entließ die Versammlung, während viele beteten und Gott verherrlichten und gestanden, nie zuvor solch seltsame Ereignisse gesehen zu haben.
(1667.2) 148:9.4 Ungefähr zur selben Zeit langten die Boten des Sanhedrins an, um die sechs Spione zur Rückkehr nach Jerusalem aufzufordern. Als diese die Botschaft vernahmen, hub unter ihnen eine ernste Debatte an. Nach Beendigung ihrer Diskussionen kehrte der Leiter mit zwei seiner Gefährten und den Boten nach Jerusalem zurück, während drei der spionierenden Pharisäer ihren Glauben an Jesus bekannten. Sie begaben sich unverzüglich zum See, wurden von Petrus getauft und von den Aposteln in die Gemeinschaft der Kinder des Königreichs aufgenommen.