(1427.1) 130:0.1 DIE Rundreise durch die römische Welt füllte den größten Teil des achtundzwanzigsten und das ganze neunundzwanzigste Jahr von Jesu Erdenleben aus. Jesus und die zwei gebürtigen Inder — Gonod und sein Sohn Ganid — verließen Jerusalem an einem Sonntagmorgen, dem 26. April 22 n. Chr. Ihre Reise verlief planmäßig, und Jesus verabschiedete sich von Vater und Sohn in der Stadt Charax am persischen Golf am 10. Dezember des folgenden Jahres, 23 n. Chr.
(1427.2) 130:0.2 Von Jerusalem aus gingen sie über Joppe nach Cäsarea. In Cäsarea bestiegen sie ein Schiff nach Alexandria. Von Alexandria segelten sie nach Lasea auf Kreta. Von hier segelten sie nach Karthago, mit Kurzaufenthalt in Kyrene. In Karthago nahmen sie ein Schiff nach Neapel und hielten unterwegs in Malta, Syrakus und Messina an. Von Neapel gingen sie nach Capua, und reisten von hier aus über die Via Appia nach Rom weiter.
(1427.3) 130:0.3 Nach ihrem Romaufenthalt gingen sie über den Landweg nach Tarent, von wo sie nach Athen in Griechenland ausliefen mit Aufenthalten in Nikopolis und Korinth. Von Athen ging es über die Troas nach Ephesus. Von hier segelten sie nach Zypern mit Zwischenhalt auf Rhodos. Auf Zypern verbrachten sie beträchtliche Zeit mit Besuchen und Ausruhen und segelten dann nach Antiochien in Syrien weiter. Von Antiochien reisten sie südwärts nach Sidon und anschließend hinüber nach Damaskus. Von da reisten sie mit einer Karawane über Thapsakus und Larissa nach Mesopotamien. Sie hielten sich einige Zeit in Babylon auf, besuchten Ur und andere Orte und gingen dann nach Susa. Von Susa reisten sie nach Charax, von wo aus Gonod und Ganid sich nach Indien einschifften.
(1427.4) 130:0.4 Während der vier Monate, die Jesus in Damaskus arbeitete, hatte er sich die Grundelemente der Sprache Gonods und Ganids angeeignet. Zusammen mit einem aus Gonods Heimatgegend stammenden Mitarbeiter hatte er dort einen großen Teil der Zeit auf Übersetzungen aus dem Griechischen in eine von Indiens Sprachen verwendet.
(1427.5) 130:0.5 Auf dieser Mittelmeerreise verbrachte Jesus ungefähr die Hälfte jeden Tages damit, Ganid zu unterrichten und für Gonod bei dessen geschäftlichen Verhandlungen und gesellschaftlichen Kontakten zu dolmetschen. Über die restliche Zeit konnte er jeden Tag frei verfügen, und er nutzte sie für jene engen persönlichen Kontakte mit seinen Mitmenschen, für jenen vertrauten Umgang mit den Sterblichen dieser Welt, der das auffallende Merkmal seiner Tätigkeit während der beiden Jahre war, die seinem öffentlichen Wirken unmittelbar vorausgingen.
(1427.6) 130:0.6 Durch eigene Beobachtung und direkten Kontakt machte sich Jesus mit der gehobeneren materiellen und intellektuellen Zivilisation des Abendlandes und der Levante vertraut; von Gonod und dessen hochbegabtem Sohn erfuhr er sehr viel über die Zivilisation und Kultur Indiens und Chinas, denn Gonod, der selber indischer Bürger war, hatte drei ausgedehnte Reisen ins Reich der gelben Rasse unternommen.
(1427.7) 130:0.7 Der junge Mann Ganid lernte viel von Jesus während dieser langen und engen Zusammenarbeit. Es entwickelte sich zwischen ihnen eine tiefe Zuneigung, und der Vater des jungen Mannes versuchte Jesus viele Male zu überreden, mit ihnen nach Indien zurückzureisen, aber Jesus lehnte stets ab, wobei er sich auf die Notwendigkeit berief, zu seiner Familie nach Palästina zurückzukehren.
(1428.1) 130:1.1 Während ihres Aufenthaltes in Joppe begegnete Jesus dem Philister Gadiah, einem Dolmetscher, der für einen Gerber namens Simon arbeitete. Gonods Beauftragte in Mesopotamien hatten mit diesem Simon viele Geschäfte abgewickelt; deshalb wünschten Gonod und sein Sohn ihn auf ihrem Weg nach Cäsarea zu besuchen. Während sie in Joppe verweilten, wurden Jesus und Gadiah enge Freunde. Dieser junge Philister war ein Wahrheitssucher. Jesus war ein Wahrheitsspender; er war die Wahrheit für jene Generation Urantias. Wenn ein großer Wahrheitssucher und ein großer Wahrheitsspender einander begegnen, ist das Ergebnis eine aus der Erfahrung neuer Wahrheit geborene große und befreiende Erleuchtung.
(1428.2) 130:1.2 Eines Tages spazierten Jesus und der junge Philister nach dem Abendessen am Meer entlang, und Gadiah, der nicht wusste, dass dieser „Schreiber von Damaskus“ sich in den hebraïschen Überlieferungen so gut auskannte, machte Jesus auf die Anlegestelle aufmerksam, wo sich Jonas der Sage nach zu seiner unglückseligen Reise nach Tarschisch eingeschifft hatte. Am Ende seiner Bemerkungen stellte er Jesus folgende Frage: „Aber glaubst du, dass der große Fisch Jonas tatsächlich verschlungen hat?“ Jesus erkannte, dass diese überlieferte Geschichte das Leben des jungen Mannes außerordentlich beeinflusst hatte und dass die Beschäftigung mit ihr in ihm die Torheit bewirkt hatte, vor der Pflicht davonlaufen zu wollen; deshalb sagte Jesus nichts, was plötzlich die Grundlagen der gegenwärtigen Motivation Gadiahs für das praktische Leben hätte zerstören können. Auf die Frage antwortete er: „Mein Freund, wir sind alle Jonasse, die ihr Leben in Übereinstimmung mit Gottes Willen leben sollen, und jedes Mal, wenn wir versuchen, uns der gegenwärtigen Lebensaufgabe zu entziehen, um fernen Lockungen nachzurennen, begeben wir uns unter die unmittelbare Kontrolle von Einflüssen, welche weder von den Mächten der Wahrheit noch von den Kräften der Rechtschaffenheit bestimmt werden. Die Flucht vor der Pflicht ist die Opferung der Wahrheit. Die Flucht vor dem Dienst für Licht und Leben mündet unweigerlich in derartige leidvolle Konflikte mit den schwierigen Riesenfischen der Selbstsucht, die schließlich in Finsternis und Tod führen, es sei denn, solche Jonasse, die Gott aufgegeben haben, besinnen sich, auch wenn sie sich in tiefster Verzweiflung befinden, und suchen Gott und seine Güte. Wenn solche entmutigten Seelen aufrichtig nach Gott suchen — nach Wahrheit hungern und nach Rechtschaffenheit dürsten — dann kann nichts sie noch länger in Gefangenschaft halten. In wie große Tiefen sie auch immer gefallen sein mögen, wenn sie das Licht von ganzem Herzen suchen, wird der Geist Gottes des Herrn im Himmel sie aus ihrer Gefangenschaft befreien; die üblen Lebensumstände werden sie ausspeien aufs trockene Land neuer Gelegenheiten, den Dienst wieder aufzunehmen und weiser zu leben.“
(1428.3) 130:1.3 Gadiah war zutiefst bewegt von Jesu Unterweisung, und sie sprachen miteinander am Meeresufer noch bis tief in die Nacht hinein. Bevor sie ihre Unterkünfte aufsuchten, beteten sie zusammen und füreinander. Dieser nämliche Gadiah hörte später Petrus predigen, begann zutiefst an Jesus von Nazareth zu glauben, und führte eines Abends im Hause des Dorcas mit Petrus ein denkwürdiges Gespräch. Und Gadiah hatte auch einen wesentlichen Anteil daran, dass der reiche Lederhändler Simon den endgültigen Entschluss fasste, das Christentum anzunehmen.
(1428.4) 130:1.4 (In diesem Bericht über Jesu persönliche Beschäftigung mit seinen Mitmenschen auf der Mittelmeerreise übersetzen wir seine Worte in Übereinstimmung mit unserem Auftrag frei in moderne, zur Zeit dieser Darstellung auf Urantia übliche Ausdrucksweise.)
(1429.1) 130:1.5 Während ihres letzten Zusammentreffens hatten Jesus und Gadiah eine Diskussion über das Gute und das Böse. Ein Gefühl der Ungerechtigkeit wegen des Vorhandenseins des Bösen in der Welt Seite an Seite mit dem Guten beunruhigte diesen jungen Philister sehr. Er sagte: „Wie kann Gott, wenn er unendlich gut ist, es zulassen, dass wir das leidvolle Böse erdulden müssen? Wer erschafft eigentlich das Böse?“ Viele glaubten damals noch, dass Gott der Urheber sowohl des Guten als auch des Bösen sei, aber Jesus lehrte nie einen solchen Irrtum. Er beantwortete die Frage wie folgt: „Mein Bruder, Gott ist Liebe, deshalb muss er gut sein, und seine Güte ist so groß und wirklich, dass sie die kleinen und unwirklichen Dinge des Üblen nicht enthalten kann. Gott ist so positiv gut, dass in ihm absolut kein Platz für negatives Übel vorhanden ist. Das Üble ist die unreife Wahl und der gedankenlose Fehltritt derjenigen, die dem Guten widerstehen, das Schöne von sich weisen und die Wahrheit verraten. Das Üble ist bloß die falsche Anpassung der Unreife oder der zerrüttende und entstellende Einfluss der Unwissenheit. Das Üble ist die unvermeidliche Finsternis, die der törichten Ablehnung des Lichts auf dem Fuße folgt. Das Üble ist das Dunkle und Unwahre, das zur Sünde wird, wenn man es bewusst annimmt und willentlich billigt.
(1429.2) 130:1.6 Als dein Vater im Himmel dir die Macht verlieh, zwischen Wahrheit und Irrtum zu wählen, schuf er zum positiven Weg des Lichts und Lebens auch das potentiell Negative; aber solche Irrtümer des Üblen haben keine wirkliche Existenz bis zu dem Augenblick, in dem ein intelligentes Geschöpf sie durch falsche Wahl der Lebensweise willentlich ins Dasein ruft. Das derartig entstandene Übel kann dann später in Sünde übergehen, wenn solch ein eigenwilliges und sich auflehnendes Geschöpf eine bewusste und vorsätzliche Wahl trifft. Deshalb erlaubt unser Vater im Himmel dem Guten und dem Bösen, bis ans Ende des Lebens nebeneinander herzugehen, gleich wie die Natur es dem Weizen und dem Unkraut erlaubt, bis zur Ernte Seite an Seite zu wachsen.“ Jesu Antwort auf seine Frage stellte Gadiah völlig zufrieden, nachdem ihre anschließende Diskussion ihm den wirklichen Sinn dieser wichtigen Äußerungen hatte klar werden lassen.
(1429.3) 130:2.1 Jesus und seine Freunde hielten sich in Cäsarea länger als vorgesehen auf, da man entdeckte, dass eines der gewaltigen Steuerruder des Schiffs, das sie besteigen sollten, in Gefahr war, in die Brüche zu gehen. Der Kapitän entschloss sich, bis zur Anfertigung eines neuen Ruders im Hafen zu bleiben. Da es für diese Aufgabe an erfahrenen Zimmerleuten mangelte, bot Jesus von sich aus seine Hilfe an. An den Abenden schlenderten Jesus und seine Freunde auf dem schönen Schutzwall, der als Promenade rund um den Hafen diente. Ganid begeisterte sich sehr für Jesu Erklärung des Wassersystems der Stadt und der Technik, welche die Flut dazu benutzte, die Straßen und Abwasserkanäle zu spülen. Dieser junge Inder war sehr beeindruckt vom Tempel des Augustus, der auf einer Anhöhe stand und den eine kolossale Statue des römischen Kaisers krönte. Am zweiten Nachmittag ihres Aufenthaltes besuchten die drei eine Aufführung in dem riesigen Amphitheater, das zwanzigtausend Menschen fassen konnte, und am Abend sahen sie sich im Theater ein griechisches Stück an. Das waren die ersten Aufführungen dieser Art, denen Ganid je beigewohnt hatte, und er stellte Jesus viele Fragen darüber. Am Morgen des dritten Tages statteten sie im Regierungspalast einen formellen Besuch ab, da Cäsarea die Hauptstadt Palästinas und Residenz des römischen Prokurators war.
(1429.4) 130:2.2 In ihrem Gasthaus wohnte auch ein Kaufmann aus der Mongolei, und da dieser Mann aus dem fernen Osten recht gut griechisch sprach, hatte Jesus mehrere lange Unterhaltungen mit ihm. Jesu Lebensphilosophie beeindruckte diesen Mann sehr, und nie vergaß er die weisen Worte, die sich darauf bezogen, „das himmlische Leben während unseres Erdendaseins zu leben, indem wir uns täglich dem Willen des himmlischen Vaters unterwerfen“. Dieser Kaufmann war Taoist und war dadurch zu einem entschiedenen Anhänger der Lehre einer universalen Gottheit geworden. Bei seiner Rückkehr in die Mongolei begann er, seine Nachbarn und Geschäftspartner diese fortgeschrittenen Wahrheiten zu lehren, und als unmittelbare Folge dieser Tätigkeiten beschloss sein ältester Sohn, Taopriester zu werden. Während seines ganzen Lebens übte dieser Sohn einen großen Einfluss zugunsten fortgeschrittener Wahrheit aus. Ihm folgten ein Sohn und ein Enkel, die der Lehre von dem Einen Gott — dem Höchsten Himmlischen Herrscher — ebenso treu ergeben waren.
(1430.1) 130:2.3 Da der östliche Zweig der frühen christlichen Kirche, der sein Hauptquartier in Philadelphia hatte, sich treuer an die Lehren Jesu hielt als die Brüder in Jerusalem, ist es bedauerlich, dass sich niemand wie Petrus fand, um nach China zu gehen, oder wie Paulus, um Indien zu betreten, wo der geistige Boden für den Samen des neuen Evangeliums des Königreichs zu jener Zeit so aufnahmebereit war. Gerade Jesu Lehren, wie die Philadelphianer sie vertraten, hätten ebenso unmittelbar und wirksam an das Bewusstsein der geistig hungernden Völker Asiens appelliert, wie es die Predigten von Petrus und Paulus im Westen taten.
(1430.2) 130:2.4 Einer der jungen Männer, die eines Tages mit Jesus am Steuerruder arbeiteten, horchte mit immer größerem Interesse auf die Worte, die er von Zeit zu Zeit fallen ließ, während sie sich auf der Werft abmühten. Als Jesus die Bemerkung machte, der Vater im Himmel kümmere sich um das Wohlergehen seiner Kinder auf Erden, sagte dieser junge Grieche Anaxand: „Wenn die Götter sich wirklich für mich interessieren, wieso entfernen sie dann den grausamen und ungerechten Vorarbeiter nicht von diesem Werkplatz?“ Er war verblüfft, als Jesus ihm zur Antwort gab: „Da du Art und Weise der Güte kennst und die Gerechtigkeit schätzt, haben die Götter vielleicht diesen verirrten Mann in deine Nähe gebracht, damit du ihn auf den besseren Weg führen mögest. Vielleicht bist du das Salz, das bestimmt ist, diesen Bruder all seinen Mitmenschen angenehmer zu machen, vorausgesetzt, du hast deinen Geschmack nicht verloren. So wie die Dinge jetzt liegen, ist dieser Mann dein Meister, weil seine üble Art dich ungünstig beeinflusst. Weshalb willst du nicht, durch die Macht der Güte, deine Herrschaft über das Böse durchsetzen und dadurch Herr aller Beziehungen zwischen euch beiden werden? Ich sage voraus, dass das Gute in dir das Böse in ihm überwinden könnte, wenn du ihm eine gerechte und lebendige Möglichkeit geben wolltest. Es gibt im Laufe des sterblichen Daseins kein fesselnderes Abenteuer als die belebende Freude, materieller Lebenspartner der geistigen Energie und der göttlichen Wahrheit in einer ihrer triumphierenden Auseinandersetzungen mit dem Irrtum und dem Übel zu werden. Es ist eine wunderbare und verwandelnde Erfahrung für einen Sterblichen, der sich in geistiger Finsternis befindet, zu einem lebendigen Kanal des geistigen Lichtes zu werden. Wenn du mehr als dieser Mann mit Wahrheit gesegnet bist, dann sollte seine Not dich herausfordern. Du bist sicherlich nicht der Feigling, der am Meeresufer stehen und zusehen könnte, wie ein des Schwimmens unkundiger Mitmensch umkommt! Um wieviel wertvoller ist die in der Finsternis herumtappende Seele dieses Mannes im Vergleich zu seinem im Wasser ertrinkenden Körper!“
(1430.3) 130:2.5 Jesu Worte bewegten Anaxand mächtig. Bald erzählte er seinem Vorgesetzten, was Jesus gesagt hatte, und noch am selben Abend suchten sie beide bei Jesus Rat für das Wohl ihrer Seelen. Und später, nachdem die christliche Botschaft in Cäsarea verkündet worden war, glaubten beide, der eine Grieche und der andere Römer, an die Predigten Philipps und wurden angesehene Mitglieder der Kirche, die er gründete. Später wurde dieser junge Grieche Hausverwalter bei Cornelius, einem römischen Zenturio, der durch das Wirken des Petrus zum Glauben kam. Anaxand fuhr fort, denen, die in der Finsternis waren, Licht zu bringen bis zur Zeit von Paulus‘ Gefangensetzung in Cäsarea, als auch er in dem großen Gemetzel von zwanzigtausend Juden zufällig umkam, während er sich der Leidenden und Sterbenden annahm.
(1431.1) 130:2.6 Um diese Zeit begann Ganid zu bemerken, wie sein Hauslehrer seine Freizeit mit dem ungewöhnlichen persönlichen Dienen an seinen Mitmenschen verbrachte, und der junge Inder nahm sich vor, die Beweggründe für dieses unablässige Tätigsein herauszufinden. Er fragte: „Wieso pflegst du so ständigen Umgang mit Fremden?“ Und Jesus antwortete: „Ganid, für einen, der Gott kennt, ist niemand ein Fremder. Wenn man die Erfahrung macht, den Vater im Himmel zu finden, entdeckt man, dass alle Menschen unsere Brüder sind. Ist es dann verwunderlich, dass man sich über das Glück, einen neu entdeckten Bruder zu treffen, freut? Seine Brüder und Schwestern kennen zu lernen, ihre Probleme zu kennen und sie lieben zu lernen, ist die allerhöchste Erfahrung im Leben.“
(1431.2) 130:2.7 Das war ein Gespräch, das bis tief in die Nacht hinein dauerte und in dessen Verlauf der junge Mann Jesus bat, ihm den Unterschied zwischen dem Willen Gottes und jenem Akt des Wählens im menschlichen Verstand zu erklären, der ebenfalls Wille genannt wird. Im Wesentlichen sagte Jesus dazu Folgendes: Der Wille Gottes ist der Weg Gottes, ist Beteiligung an der Wahl Gottes angesichts jeder möglichen Alternative. Den Willen Gottes zu tun, ist deshalb die fortschreitende Erfahrung, immer gottähnlicher zu werden, und Gott ist der Ursprung und die Bestimmung von allem, was gut, schön und wahr ist. Der Wille des Menschen ist der Weg des Menschen, die Summe und Substanz dessen, was der Sterbliche zu sein und zu tun wählt. Der Wille ist die wohldurchdachte Wahl eines sich selber bewussten Wesens, die zu einem Entscheidungsverhalten führt, das auf intelligenter Überlegung beruht.
(1431.3) 130:2.8 Am selben Nachmittag hatten sich Jesus und Ganid beim Spiel mit einem sehr intelligenten Schäferhund vergnügt, und Ganid wollte wissen, ob der Hund eine Seele und einen Willen habe, worauf ihm Jesus zur Antwort gab: „Der Hund hat einen Verstand, der einen materiellen Menschen, seinen Meister, kennen kann, aber nicht Gott, der Geist ist; der Hund besitzt also keine geistige Natur und kann sich deshalb auch keiner geistigen Erfahrung erfreuen. Mag der Hund auch einen Willen besitzen, der aus der Natur stammt und durch Übung verstärkt werden kann, so ist doch ein solch verstandesmäßiges Vermögen keine geistige Kraft, noch ist es mit dem menschlichen Willen vergleichbar, da es nicht auf Überlegung beruht — es resultiert nicht aus der Unterscheidung höherer und sittlicher Bedeutungen oder aus der Wahl geistiger und ewiger Werte. Erst der Besitz solcher Fähigkeiten der geistigen Unterscheidung und der Wahrheitswahl macht aus dem sterblichen Menschen ein sittliches Wesen, ein Geschöpf, das mit den Attributen geistiger Verantwortung und dem Potential ewigen Lebens ausgestattet ist.“ Jesus fuhr fort zu erklären, dass die Abwesenheit solcher mentaler Fähigkeiten im Tier es der Tierwelt für immer unmöglich macht, im Zeitlichen eine Sprache zu entwickeln und in der Ewigkeit etwas dem Fortleben der Persönlichkeit Vergleichbares zu erfahren. Der Unterricht dieses Tages hatte zur Folge, dass Ganid nie wieder an die Wanderung von menschlichen Seelen in Tierkörper glaubte.
(1431.4) 130:2.9 Am nächsten Tag besprach Ganid all dies mit seinem Vater, und auf eine Frage Gonods erklärte Jesus: „Menschen, deren Wille ausschließlich zeitgebundene Entscheidungen fällt, die mit den materiellen Problemen der animalischen Existenz zu tun haben, sind dazu verurteilt, mit dem Zeitlichen unterzugehen. Diejenigen, die mit ganzem Herzen sittliche Entscheidungen treffen und vorbehaltlos geistige Ziele wählen, identifizieren sich dadurch zunehmend mit dem ihnen innewohnenden, göttlichen Geist und verwandeln sich dabei mehr und mehr in die Werte des ewigen Fortlebens — des endlosen Fortschreitens im göttlichen Dienst.“
(1431.5) 130:2.10 An eben diesem Tage hörten wir zum ersten Mal jene bedeutungsvolle Wahrheit, die, in heutiger Sprache ausgedrückt, etwa lauten würde: „Der Wille ist die Manifestation des menschlichen Verstandes, welche das subjektive Bewusstsein befähigt, sich objektiv auszudrücken und das Phänomen des Strebens nach Gottähnlichkeit zu erfahren.“ In diesem Sinne kann jedes nachdenkliche und geistig ausgerichtete menschliche Wesen schöpferisch werden.
(1432.1) 130:3.1 Der Aufenthalt in Cäsarea war ereignisreich gewesen, und als das Schiff seeklar war, fuhren Jesus und seine zwei Freunde eines Mittags nach Alexandria in Ägypten ab.
(1432.2) 130:3.2 Die drei erfreuten sich einer sehr angenehmen Überfahrt nach Alexandria. Ganid war von der Reise begeistert und bestürmte Jesus mit Fragen. Als sie sich dem Hafen der Stadt näherten, wurde der junge Mann durch den großen Leuchtturm von Pharos in helle Begeisterung versetzt. Dieser stand auf der Insel, die Alexander durch einen Damm mit dem Festland verbunden hatte, wodurch zwei prächtige Häfen geschaffen wurden, die Alexandria zum Umschlagsplatz für den Seehandel zwischen Afrika, Asien und Europa machten. Dieser große Leuchtturm war eines der sieben Weltwunder und der Vorläufer aller späteren Leuchttürme. Die drei erhoben sich in aller Frühe, um dieses grandiose, lebensrettende Menschenwerk zu sehen, und mitten in die Ausrufe Ganids hinein sagte Jesus: „Und du, mein Sohn, wirst diesem Leuchtturm gleichen, wenn du nach Indien zurückkehrst und nachdem dein Vater zur letzten Ruhe gebettet ist; du wirst wie das Licht des Lebens sein für die, die sich um dich herum in der Finsternis befinden, und allen, denen danach verlangt, den Weg zeigen, damit sie den Hafen der Rettung in Sicherheit erreichen mögen.“ Und Ganid drückte Jesus fest die Hand und sprach: „Das werde ich.“
(1432.3) 130:3.3 Und wiederum vermerken wir, dass die frühen Lehrer der christlichen Religion einen großen Fehler machten, als sie ihre Aufmerksamkeit so ausschließlich der westlichen Zivilisation des Römischen Reiches zuwandten. Die Lehren Jesu, wie sie im ersten Jahrhundert von den Gläubigen Mesopotamiens vertreten wurden, wären von den verschiedenen religiösen Gruppierungen Asiens bereitwillig aufgenommen worden.
(1432.4) 130:3.4 Etwa vier Stunden nach ihrer Landung hatten sie sich in der Nähe des östlichen Endes der acht Kilometer langen und dreißig Meter breiten Prachtstrasse einquartiert, die sich bis an den westlichen Rand dieser Einmillionenstadt erstreckte. Nach einer ersten Besichtigung der hauptsächlichsten Sehenswürdigkeiten der Stadt — der Universität (des Museums), der Bibliothek, des königlichen Mausoleums Alexanders, des Palastes, des Neptuntempels, des Theaters und der Sporthalle — wandte sich Gonod seinen Geschäften zu, während Jesus und Ganid die Bibliothek, die größte der Welt, aufsuchten. Hier waren nahezu eine Million Manuskripte aus der ganzen zivilisierten Welt zusammengetragen worden: aus Griechenland, Rom, Palästina, Parthien, Indien, China und sogar aus Japan. In dieser Bibliothek sah Ganid die umfangreichste Sammlung indischer Literatur auf der ganzen Welt; und während ihres Aufenthaltes in Alexandria verbrachten sie hier jeden Tag einen Teil ihrer Zeit. Jesus berichtete Ganid über die hier erfolgte Übersetzung der hebräischen Schriften ins Griechische. Und immer wieder sprachen sie über alle Religionen der Welt, und Jesus bemühte sich, für diesen jungen Verstand auf die in jeder von ihnen enthaltene Wahrheit hinzuweisen, indem er jeweils hinzufügte: „Aber Jahve ist der Gott, der sich aus den Offenbarungen Melchisedeks und aus dessen Bund mit Abraham entwickelt hat. Die Juden waren die Nachkommen Abrahams und besetzten später genau das Land, wo Melchisedek gelebt und gelehrt und von wo aus er Lehrer in die ganze Welt gesandt hatte; und ihre Religion schuf schließlich im Herrn Gott Israels ein Bild, in welchem der Universale Himmlische Vater klarer erkennbar war denn in irgendeiner anderen Weltreligion.“
(1432.5) 130:3.5 Unter Jesu anleitung legte Ganid eine Sammlung der Lehren all jener Weltreligionen an, welche eine universale Gottheit anerkannten, auch wenn sie daneben untergeordneten Gottheiten mehr oder weniger Anerkennung zollten. Nach vielem Diskutieren entschieden Jesus und Ganid, dass die Römer in ihrer Religion keinen wirklichen Gott besaßen und dass ihre Religion kaum mehr als ein Kaiserkult war. Die Griechen, so schlossen sie, hatten zwar eine Philosophie, aber kaum eine Religion mit einem persönlichen Gott. Sie schieden die Mysterienkulte wegen ihrer verwirrenden Vielfalt aus und weil ihre verschiedenen Gottesvorstellungen aus anderen und älteren Religionen abgeleitet zu sein schienen.
(1433.1) 130:3.6 Obwohl diese Übersetzungen in Alexandria gemacht wurden, ordnete Ganid diese ausgewählten Texte unter Hinzufügung seiner persönlichen Schlussfolgerungen endgültig doch erst kurz vor dem Ende ihres Romaufenthaltes. Groß war seine Überraschung, als er entdeckte, dass die besten Autoren der heiligen Literatur der Welt alle mehr oder weniger klar die Existenz eines ewigen Gottes anerkannten und sich hinsichtlich seines Charakters und seiner Beziehung zu den sterblichen Menschen recht einig waren.
(1433.2) 130:3.7 Jesus und Ganid verbrachten während ihres Aufenthaltes in Alexandria viel Zeit im Museum. Dieses war keine Sammlung seltener Gegenstände, sondern eher eine Universität der schönen Künste, der Wissenschaft und der Literatur. Gelehrte Professoren hielten hier täglich Vorlesungen, und in jenen Tagen war es der intellektuelle Mittelpunkt der abendländischen Welt. Tag für Tag erklärte Jesus Ganid die Vorlesungen; eines Tages während der zweiten Woche rief der junge Mann aus: „Lehrer Joshua, du weißt mehr als diese Professoren; du solltest dich erheben und ihnen die großen Dinge mitteilen, die du mir gesagt hast; sie sind vom vielen Denken benebelt. Ich werde mit meinem Vater darüber sprechen und ihn bitten, es in die Wege zu leiten.“ Jesus lächelte und sagte: „Du bist ein bewundernder Schüler, aber diese Lehrer sind nicht der Ansicht, dass du und ich sie belehren sollten. Der Stolz auf unvergeistigtes Wissen ist etwas Heimtückisches in der menschlichen Erfahrung. Der wahre Lehrer bewahrt seine intellektuelle Integrität, indem er immer ein Lernender bleibt.“
(1433.3) 130:3.8 Alexandria war die Stadt, wo sich alle Kulturen des Abendlandes mischten, und nach Rom die größte und prächtigste der Welt. Hier befand sich die größte jüdische Synagoge der Welt, der Amtssitz des Sanhedrins von Alexandria, der siebzig regierenden Ältesten.
(1433.4) 130:3.9 Unter den vielen Männern, mit denen Gonod Geschäfte tätigte, war auch Alexander, ein jüdischer Bankier, dessen Bruder Philo ein berühmter religiöser Philosoph jener Zeit war. Philo befasste sich mit der lobenswerten, aber ungemein schwierigen Aufgabe, griechische Philosophie und hebräische Theologie in Einklang zu bringen. Ganid und Jesus sprachen viel über Philos Lehren und hofften, einigen seiner Vorlesungen beizuwohnen, aber während ihres ganzen Aufenthaltes in Alexandria lag dieser berühmte hellenistische Jude krank im Bett.
(1433.5) 130:3.10 Jesus empfahl Ganid vieles aus der griechischen Philosophie und den Lehren der Stoiker, wies den Jungen aber mit Nachdruck auf die Wahrheit hin, dass diese Glaubenssysteme, genauso wie die unklaren Lehren einiger Angehöriger seines eigenen Volkes nur Religionen in dem Sinne waren, als sie die Menschen dahin brachten, Gott zu finden und sich einer lebendigen Erfahrung in der Kenntnis des Ewigen zu erfreuen.
(1433.6) 130:4.1 Am Vorabend ihrer Abreise von Alexandria waren Ganid und Jesus lange mit einem der leitenden Professoren der Universität zusammen, der Vorlesungen über die Lehren Platos gab. Jesus dolmetschte für den gelehrten griechischen Professor, brachte aber keine eigenen Lehren zur Widerlegung der griechischen Philosophie ein. Gonod war an jenem Abend aus geschäftlichen Gründen abwesend; deshalb führten der Lehrer und sein Schüler nach dem Weggang des Professors ein langes und offenes Gespräch über Platos Lehren. Einigen griechischen Lehrmeinungen, die sich mit der Theorie befassten, die materiellen Dinge der Welt seien bloß schattenhafte Spiegelungen unsichtbarer, aber substanziellerer geistiger Realitäten, stimmte Jesus zwar mit Vorbehalt zu, versuchte aber dem Denken des Jünglings eine zuverlässigere Grundlage zu geben; und so begann er eine lange Abhandlung über die Natur der Realität im Universum. Im Wesentlichen und in heutiger Ausdrucksweise sagte Jesus zu Ganid:
(1434.1) 130:4.2 Die Quelle der Realität des Universums ist das Unendliche. Die materiellen Dinge der endlichen Schöpfung sind die Zeit-Raum-Widerspiegelungen der Paradies-Urbilder und des Universalen Verstandes des ewigen Gottes. Kausalität in der physischen Welt, Selbstbewusstheit in der intellektuellen Welt und fortschreitendes Selbst in der Welt des Geistes — diese Realitäten, auf einen universalen Maßstab projiziert, in ewigen Bezügen verknüpft und in vollkommener Qualität und mit göttlichem Wert erfahren, bilden die Realität des Supremen. Aber in einem sich ewig verändernden Universum ist die Ursprüngliche Persönlichkeit der Kausalität, der Intelligenz und der geistigen Erfahrung unveränderlich, absolut. Alle Dinge, sogar in einem ewigen Universum unbegrenzter Werte und göttlicher Eigenschaften, können sich verändern und tun es auch oft außer den Absoluten und allem, was einen absoluten physischen Zustand, ein absolutes intellektuelles Begreifen oder eine absolute geistige Identität erreicht hat.
(1434.2) 130:4.3 Die höchste Stufe, zu der ein endliches Geschöpf gelangen kann, ist das Erkennen des Universalen Vaters und das Wissen um den Supremen. Aber auch dann noch fahren solche Wesen mit Finalistenbestimmung fort, die Veränderung in den Bewegungen der physischen Welt und in ihren materiellen Phänomenen zu erfahren. Und ebenso bleiben sie sich der Fortschritte des Selbst während ihres unablässigen Aufstiegs im geistigen Universum bewusst sowie einer wachsenden Klarheit ihrer sich vertiefenden Würdigung des intellektuellen Kosmos und ihrer Resonanz auf ihn. Das Geschöpf kann mit dem Schöpfer nur in der Vollkommenheit, Harmonie und Übereinstimmung des Willens eins werden; und ein solcher Zustand der Göttlichkeit wird nur erreicht und aufrechterhalten, wenn das Geschöpf fortfährt, in der Zeit und in der Ewigkeit ein Leben der beharrlichen Ausrichtung seines endlichen persönlichen Willens auf den göttlichen Willen des Schöpfers zu führen. Das Verlangen, den Willen des Vaters zu tun, muss in der Seele eines aufsteigenden Gottessohnes stets übermächtig sein und seinen Sinn beherrschen.
(1434.3) 130:4.4 Ein Einäugiger kann nie hoffen, die Tiefe der Perspektive zu schauen. Ebenso wenig können einäugige materielle Wissenschaftler oder einäugige geistige Mystiker und Allegoristen die wahren Tiefen der Realität des Universums richtig schauen und angemessen begreifen. Alle wahren Werte der Erfahrung der Geschöpfe sind in den Tiefen der Erkenntnis verborgen.
(1434.4) 130:4.5 Des Verstandes entbehrende Ursachen vermögen nicht, aus dem Rohen und Einfachen das Verfeinerte und Komplexe hervorzubringen, und ebenso wenig kann eine des Geistes entbehrende Erfahrung aus dem materiellen Verstand der zeitgebundenen Sterblichen einen göttlichen, zum ewigen Leben befähigten Charakter entwickeln. Das besondere Merkmal des Universums, welches die unendliche Gottheit so ausschließlich charakterisiert, ist diese nie endende, schöpferische Verleihung der Persönlichkeit, die fortleben kann, indem sie sich der Gottheit immer mehr annähert.
(1434.5) 130:4.6 Die Persönlichkeit ist jene kosmische Gabe, jene Phase der universalen Realität, die mit unbegrenztem Wandel koexistieren und zugleich ihre Identität inmitten all dieser Veränderungen und für ewig danach bewahren kann.
(1434.6) 130:4.7 Das Leben ist eine Anpassung der ursprünglichen kosmischen Ursache an die Forderungen und Möglichkeiten der Gegebenheiten des Universums und kommt ins Dasein durch das Wirken des Universalen Verstandes und die Aktivierung des Geistfunkens Gottes, der Geist ist: Die Bedeutung des Lebens ist seine Anpassungsfähigkeit; der Wert des Lebens ist seine Fähigkeit zum Fortschritt — sogar bis zu den Höhen des Gottesbewusstseins.
(1434.7) 130:4.8 Die Fehlanpassung des sich selbst bewussten Lebens an das Universum hat kosmische Disharmonie zur Folge. Eine endgültige Abweichung des Persönlichkeitswillens von der Entwicklungsrichtung der Universen endet in intellektuel-ler Isolation, in der Absonderung der Persönlichkeit. Der Verlust des innewohnenden geistigen Lotsen folgt unmittelbar auf das geistige Ende der Existenz. Deshalb wird intelligentes und fortschreitendes Leben in sich und durch sich zum unwiderlegbaren Beweis für die Existenz eines zielgerichteten Universums, das den Willen eines göttlichen Schöpfers ausdrückt. Und dieses Leben insgesamt ringt sich zu immer höheren Werten empor, wobei der Universale Vater sein Endziel ist.
(1435.1) 130:4.9 Der Verstand des Menschen liegt nur um einige Grade über der tierischen Ebene, wenn man von den höheren und sozusagen geistigen Leistungen des Intellekts absieht. Daher können die Tiere (die weder Anbetung noch Weisheit kennen) das Überbewusstsein, das Bewusstsein des Bewusstseins, nicht erfahren. Der tierische Verstand ist sich nur des objektiven Universums bewusst.
(1435.2) 130:4.10 Das Wissen ist die Sphäre des materiellen, die Tatsachen erkennenden Verstandes. Die Wahrheit ist das Gebiet des geistbegabten Intellekts, der sich bewusst ist, Gott zu kennen. Wissen ist beweisbar; Wahrheit wird erfahren. Wissen ist ein Besitz des Verstandes, Wahrheit eine Erfahrung der Seele, des fortschreitenden Selbst. Wissen ist eine Funktion der nichtgeistigen Ebene, Wahrheit ist eine Phase der Verstandes-Geistesebene der Universen. Das Auge des materiellen Verstandes nimmt eine Welt des faktischen Wissens wahr; das Auge des vergeistigten Intellekts erkennt eine Welt wahrer Werte. Wenn diese beiden Betrachtungsweisen miteinander synchronisiert und harmonisiert sind, enthüllen sie die Welt der Realität, in der die Weisheit die Phänomene des Universums im Sinne der fortschreitenden persönlichen Erfahrung interpretiert.
(1435.3) 130:4.11 Irrtum (das Üble) ist die Strafe für Unvollkommenheit. Die Eigenschaften der Unvollkommenheit oder die Tatsachen von Fehlanpassung eröffnen sich auf der materiellen Ebene der kritischen Beobachtung und der wissenschaftlichen Analyse und auf der sittlichen Ebene der menschlichen Erfahrung. Das Vorhandensein des Üblen bildet den Beweis für Ungenauigkeiten des Denkens und für die Unreife des sich entwickelnden Selbst. Bei der Interpretation des Universums ist deshalb das Üble auch das Maß für die Unvollkommenheit. Die Möglichkeit, Fehler zu begehen, ist der Erwerbung von Weisheit inhärent, liegt im Plan des Fortschreitens vom Partiellen und Zeitlichen zum Vollständigen und Ewigen, vom Relativen und Unvollkommenen zum Endgültigen und Vervollkommneten. Der Irrtum ist der Schatten der relativen Unvollkommenheit, der unvermeidlich auf den durch das Universum zur paradiesischen Vollkommenheit hinaufführenden Pfad des Menschen fällt. Ein Irrtum (das Üble) ist kein wirklicher Wert im Universum; er ist einfach die Beobachtung einer Relativität in der Beziehung zwischen der Unvollkommenheit des unvollendeten Endlichen und den aufsteigenden Ebenen des Supremen und Ultimen.
(1435.4) 130:4.12 Obwohl Jesus dem Jüngling all dies in einer Sprache sagte, die seinem Verständnis am besten angepasst war, wurden Ganid am Ende der Unterhaltung die Lider schwer und er fiel bald in Schlaf. Sie erhoben sich früh am nächsten Morgen, um an Bord des Schiffes zu gehen, das für Lasea auf der Insel Kreta bestimmt war. Aber bevor sie sich einschifften, hatte der Junge noch weitere Fragen in Bezug auf das Üble, die Jesus wie folgt beantwortete:
(1435.5) 130:4.13 Das Üble ist ein relativer Begriff. Er geht aus der Beobachtung der Unvollkommenheiten hervor, die im Schatten, den ein endliches Universum von Dingen und Wesen wirft, auftreten; denn ein solcher Kosmos verdunkelt das lebendige Licht des universalen Ausdrucks der ewigen Realitäten des Unendlichen Einen.
(1435.6) 130:4.14 Das potentiell Üble wohnt der notwendigen Unvollkommenheit der Offenbarung Gottes als eines durch Zeit und Raum begrenzten Ausdrucks der Unendlichkeit und der Ewigkeit inne. Der Tatbestand des Partiellen in Gegenwart des Vollständigen bildet die Relativität der Realität, schafft die Notwendigkeit verstandesmäßigen Wählens und begründet Wertebenen geistiger Erkenntnis und Reaktion. Die unvollkommene und endliche Vorstellung, die der zeitgebundene und begrenzte Verstand des Geschöpfs von der Unendlichkeit hat, ist in sich und durch sich das potentiell Üble. Aber der zunehmende Irrtum, der es unentschuldbar versäumt, diese ursprünglichen inhärenten intellektuellen Disharmonien und geistigen Unzulänglichkeiten durch vernünftige Geistesarbeit zu korrigieren, kommt der Verwirklichung des tatsächlich Üblen gleich.
(1436.1) 130:4.15 Alle statischen, toten Vorstellungen sind potentiell übel. Der endliche Schatten, den die relative und lebendige Wahrheit wirft, bewegt sich unablässig. Statische Vorstellungen verlangsamen unweigerlich Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und Religion. Sie mögen ein bestimmtes Wissen repräsentieren, aber sie ermangeln der Weisheit und entbehren der Wahrheit. Erlaubt jedoch dem Begriff der Relativität nicht, euch so irrezuführen, dass ihr die Koordination des Universums unter der Führung des Kosmischen Verstandes und seine stabilisierte Kontrolle durch die Energie und den Geist des Supremen verkennt.
(1436.2) 130:5.1 Mit ihrem Ausflug nach Kreta verfolgten die Reisenden nur das eine Ziel, zu spielen, auf der Insel herumzuwandern und die Berge zu besteigen. Die Kreter jener Tage erfreuten sich unter den Nachbarvölkern keines beneidenswerten Rufs. Trotzdem gewannen Jesus und Ganid viele Seelen für höhere Ebenen des Denkens und Lebens und legten dadurch das Fundament zur späteren raschen Aufnahme der Lehren des Evangeliums, als die ersten Prediger von Jerusalem ankamen. Jesus liebte diese Kreter trotz der harten Worte, die Paulus später über sie sprach, als er Titus auf die Insel entsandte, um ihre Kirchen zu reorganisieren.
(1436.3) 130:5.2 An einem Berghang auf Kreta hatte Jesus sein erstes langes Gespräch mit Gonod über Religion. Der Vater war sehr beeindruckt und sagte: „Kein Wunder, dass der Junge alles, was du ihm sagst, glaubt, aber ich hatte keine Ahnung, dass es in Jerusalem eine solche Religion gibt, und noch viel weniger in Damaskus.“ Während des Inselaufenthaltes schlug Gonod Jesus zum ersten Mal vor, mit ihnen nach Indien zurückzukehren, und Ganid war hocherfreut bei dem Gedanken, Jesus könnte einer solchen Abmachung zustimmen.
(1436.4) 130:5.3 Als Ganid Jesus eines Tages fragte, wieso er sich nicht der Aufgabe eines öffentlichen Lehrers verschrieben habe, sagte er: „Mein Sohn, alles muss seine Zeit abwarten. Du wirst in die Welt geboren, aber kein noch so brennendes Verlangen noch alle Ungeduldsbezeugungen werden dir helfen heranzuwachsen. In allen diesen Dingen musst du die Zeit abwarten. Nur die Zeit wird die grüne Frucht auf dem Baum reifen lassen. Jahreszeit folgt auf Jahreszeit und Sonnenuntergang auf Sonnenaufgang nur mit der verrinnenden Zeit. Ich bin jetzt mit dir und deinem Vater unterwegs nach Rom, und das genügt für heute. Mein Morgen ruht ganz und gar in den Händen meines Vaters im Himmel.“ Und dann erzählte er Ganid die Geschichte von Moses und den vierzig Jahren wachsamen Wartens und ständiger Vorbereitung.
(1436.5) 130:5.4 Einen Vorfall, der sich während eines Besuches in Kaloi Limenes zutrug, vergaß Ganid nie; die Erinnerung an dieses Ereignis rief in ihm immer den Wunsch wach, etwas zu unternehmen, um das Kastensystem seines indischen Vaterlandes zu ändern. Ein degenerierter Trunkenbold fiel auf öffentlicher Straße ein Sklavenmädchen an. Als Jesus die Notlage des Mädchens sah, stürzte er nach vorn und entzog es dem Angriff des Verrückten. Während das erschrockene Kind sich an ihn klammerte, hielt er den Rasenden mit seinem kräftigen ausgestreckten rechten Arm in sicherer Distanz, bis der jämmerliche Kerl sich mit wilden Schlägen in die Luft erschöpft hatte. Ganid fühlte sich stark gedrängt, Jesus beizustehen, aber sein Vater verbot es ihm. Obwohl sie die Sprache des Mädchens nicht sprechen konnten, vermochte es doch, ihr barmherziges Handeln zu verstehen, und es gab seiner tiefempfundenen Dankbarkeit Ausdruck, während alle drei es nach Hause begleiteten. Das war wahrscheinlich der engste persönliche Zusammenstoß, den Jesus mit einem seiner Mitmenschen während seines ganzen Erdenlebens hatte. Aber er stand an diesem Abend vor einer schwierigen Aufgabe, als er Ganid zu erklären versuchte, wieso er den betrunkenen Mann nicht geschlagen hatte. Ganid meinte, dieser Mann hätte zumindest ebenso oft geschlagen werden sollen, wie er das Mädchen geschlagen hatte.
(1437.1) 130:6.1 Während sie oben in den Bergen weilten, hatte Jesus ein langes Gespräch mit einem jungen Mann, der furchtsam und niedergeschlagen war. Da es diesem Jüngling nicht gelungen war, durch den Anschluss an seine Altersgefährten Zuspruch und Mut zu erhalten, hatte er die Einsamkeit der Berge aufgesucht; er war mit einem Gefühl der Hilflosigkeit und Minderwertigkeit herangewachsen. Diese natürlichen Tendenzen waren durch zahlreiche schwierige Umstände verstärkt worden, denen der Junge während seiner Entwicklung begegnet war, namentlich durch den Verlust seines Vaters, als er zwölf Jahre alt war. Als sie einander trafen, sagte Jesus: „Grüß dich, mein Freund! Warum so niedergeschlagen an einem so schönen Tag? Wenn etwas vorgefallen ist, was dich betrübt, kann ich dir vielleicht in irgendeiner Weise beistehen. Auf jeden Fall ist es mir ein wahres Vergnügen, dir meine Hilfe anzubieten.“
(1437.2) 130:6.2 Der junge Mann war nicht willens zu sprechen, und so unternahm Jesus eine zweite Annäherung an seine Seele und sagte: „Ich verstehe, dass du in diese Berge hinaufgehst, um von den Leuten wegzukommen; deshalb willst du natürlich nicht mit mir sprechen, aber ich würde gerne wissen, ob du mit den Bergen hier vertraut bist; weißt du, wohin die Pfade führen? Und könntest du mir vielleicht den besten Weg nach Phenix weisen?“ Da nun der Jüngling diese Berge bestens kannte, begann sich in ihm ein so großes Interesse zu regen, Jesus den Weg nach Phenix zu zeigen, dass er alle Pfade auf den Boden zeichnete und ausführlich erklärte. Aber er erschrak und wurde neugierig, als sich Jesus, nachdem er ihm Lebewohl gesagt hatte und sich zum Weggehen anschickte, plötzlich umwandte und sagte: „Ich weiß wohl, dass du mit deiner Betrübnis allein gelassen werden möchtest; aber es wäre von mir weder höflich noch recht, von dir so großzügige Hilfe bei der Suche nach dem besten Weg nach Phenix anzunehmen, und dann gedankenlos von dir wegzugehen, ohne den geringsten Versuch unternommen zu haben, auf deinen dringenden Wunsch um Hilfe und Führung bezüglich des besten Weges nach dem Ziel deiner Bestimmung zu antworten, den du in deinem Herzen suchst, während du hier am Bergabhang weilst. So gut wie du die Pfade nach Phenix kennst, weil du sie oftmals gegangen bist, so gut kenne ich den Weg zur Stadt deiner enttäuschten Hoffnungen und deines durchkreuzten Strebens. Und da du mich um Hilfe gefragt hast, werde ich dich nicht enttäuschen.“ Der junge Mann war fast überwältigt, aber er brachte es gerade noch fertig zu stammeln: „Aber — ich habe dich um nichts gebeten –“ Und Jesus sagte, indem er ihm liebevoll seine Hand auf die Schulter legte: „Nein, mein Sohn, nicht mit Worten, aber mit sehnsüchtigen Blicken hast du mein Herz angerufen. Mein Junge, für einen, der seine Mitmenschen liebt, liegt ein beredter Hilferuf in deinem Ausdruck der Entmutigung und der Verzweiflung. Setz dich zu mir, während ich dir von den Pfaden des Dienstes und den Straßen des Glücks erzähle, die aus dem Leid des Selbst zu den Freuden liebender Tätigkeiten in der Brüderlichkeit der Menschen und im Dienste des Gottes im Himmel führen.“
(1437.3) 130:6.3 Nun verlangte es den jungen Mann sehr stark danach, mit Jesus zu sprechen, und er kniete zu seinen Füßen nieder und flehte ihn an, ihm zu helfen, ihm den Ausweg aus seiner Welt persönlicher Kümmernis und Niederlage zu zeigen. Jesus sprach: „Mein Freund, erhebe dich! Steh‘ auf wie ein Mann! Du magst von kleinen Feinden umgeben und wegen vieler Hindernisse aufgehalten worden sein, aber die großen und wirklichen Dinge dieser Welt und des Universums sind auf deiner Seite. Die Sonne geht jeden Morgen auf, um dich zu grüßen, genau so wie den mächtigsten und erfolgreichsten Menschen auf Erden. Schau — du hast einen kräftigen Körper und starke Muskeln — deine physische Ausrüstung ist überdurchschnittlich. Natürlich ist sie so gut wie nutzlos, solange du hier am Bergabhang sitzt und dich über dein wirkliches und eingebildetes Unglück grämst. Aber du könntest mit deinem Körper große Dinge vollbringen, wenn du dich dahin aufmachen wolltest, wo große Dinge darauf warten, vollbracht zu werden. Du versuchst, deinem unglücklichen Selbst zu entfliehen, aber das ist nicht möglich. Du und deine Lebensprobleme sind wirklich; du kannst ihnen nicht entrinnen, solange du lebst. Und schau, dein Verstand ist klar und fähig. Dein kräftiger Körper wird von einem intelligenten Verstand gesteuert. Lass deinen Verstand arbeiten, um deine Probleme zu lösen; lehre deinen Intellekt, für dich zu arbeiten; lehne es ab, dich länger von Furcht beherrschen zu lassen wie ein des Denkens nicht mächtiges Tier. Dein Verstand sollte bei der Lösung deiner Lebensprobleme dein mutiger Verbündeter sein und nicht du, wie bisher, sein elender, von Angst beherrschter Sklave und ein Leibeigener der Entmutigung und der Niederlage. Aber kostbarer als alles ist der in dir lebende Geist, dein Potential für wirkliche Leistungen. Er wird deinen Verstand anregen und inspirieren, damit er sich selber unter Kontrolle bringen und den Körper aktivieren kann, sofern du ihn von den Fesseln der Angst befreien und damit deine geistige Natur befähigen willst, mit der Befreiung von dem Übel der Untätigkeit durch die kraftvolle Gegenwart des lebendigen Glaubens zu beginnen. Und dann wird dieser Glaube unverzüglich deine Angst vor den Menschen durch die bezwingende Gegenwart der neuen und alles beherrschenden Liebe zu deinen Mitmenschen besiegen. Sie wird deine Seele bald bis zum Überfließen erfüllen, weil in deinem Herzen das Bewusstsein geboren wurde, dass du ein Kind Gottes bist.
(1438.1) 130:6.4 Heute, mein Sohn, sollst du wiedergeboren werden und neuerstehen als ein Mann des Glaubens und des Mutes, der dem Dienst an den Menschen hingegeben ist aus Liebe zu Gott. Und wenn du dich innerlich auf diese Weise wieder dem Leben angepasst hast, bist du auch wieder im Einklang mit dem Universum; du bist wiedergeboren worden — aus dem Geist geboren — und von nun an wird dein ganzes Leben eine einzige siegreiche Erfüllung sein. Unannehmlichkeiten werden dich stärken, Enttäuschungen dich anspornen, Schwierigkeiten werden dich herausfordern und Hindernisse dich anregen. Steh auf, junger Mann! Sag‘ diesem Leben unterwürfiger Furcht und feiger Flucht Lebewohl. Kehre schleunigst zu deiner Pflicht zurück und lebe dein irdisches Leben als ein Sohn Gottes, als ein Sterblicher, der sich auf Erden dem veredelnden Dienst am Menschen verschrieben hat und in der Ewigkeit zum herrlichen und ewigen Dienst an Gott bestimmt ist.“
(1438.2) 130:6.5 Und dieser junge Mann, Fortunatus, wurde später zum Oberhaupt der Christen auf Kreta und engen Mitarbeiter von Titus bei dessen Bemühungen um die kretischen Gläubigen.
(1438.3) 130:6.6 Die Reisenden waren richtig ausgeruht und erfrischt, als sie sich eines Tages um die Mittagsstunde zur Fahrt nach Karthago in Nordafrika bereitmachten. In Kyrene legten Sie einen zweitägigen Aufenthalt ein. Hier leisteten Jesus und Ganid einem Knaben namens Rufus erste Hilfe, der beim Zusammenbruch eines schwer beladenen Ochsenkarrens verletzt worden war. Sie trugen ihn nach Hause zu seiner Mutter, und Simon, sein Vater, ahnte später nicht, dass der Mann, dessen Kreuz er auf Befehl eines römischen Soldaten trug, derselbe Fremde war, der sich einst seines Sohnes angenommen hatte.
(1438.4) 130:7.1 Auf dem Wege nach Karthago sprach Jesus mit seinen Reisegefährten meistens über soziale, politische und geschäftliche Dinge; kaum ein Wort fiel über Religion. Zum ersten Mal entdeckten Gonod und Ganid, dass Jesus ein guter Geschichtenerzähler war, und sie wurden nicht müde, ihn über sein früheres Leben in Galiläa berichten zu hören. Dabei erfuhren sie auch, dass er in Galiläa und nicht in Jerusalem oder Damaskus aufgewachsen war.
(1438.5) 130:7.2 Als Ganid wissen wollte, was man tun könne, um Freunde zu gewinnen, nachdem er beobachtet hatte, dass die Mehrzahl der Menschen, denen sie begegneten, sich von Jesus angezogen fühlten, antwortete sein Lehrer: „Interessiere dich für deine Mitmenschen; lerne sie lieben und suche eine Gelegenheit, etwas für sie zu tun, wovon du mit Sicherheit weißt, dass es ihnen lieb wäre.“ Und dann zitierte er das alte jüdische Sprichwort: „Ein Mann, der gerne Freunde haben möchte, sollte sich selber freundlich zeigen.“
(1439.1) 130:7.3 In Karthago führte Jesus ein langes und denkwürdiges Gespräch mit einem mithraischen Priester über Unsterblichkeit, Zeit und Ewigkeit. Dieser Perser hatte in Alexandria studiert und wünschte von ganzem Herzen, von Jesus zu lernen. Übersetzt in heutige Ausdrucksweise, beantwortete Jesus seine vielen Fragen im Wesentlichen wie folgt:
(1439.2) 130:7.4 Die Zeit ist der Strom der fließenden zeitlichen Ereignisse, wie ihn das Bewusstsein eines Geschöpfes wahrnimmt. Zeit ist eine Bezeichnung für diese Ordnung der Abfolge, dank der die Ereignisse erkannt und voneinander getrennt werden können. Von jeder inneren Position außerhalb des feststehenden Sitzes des Paradieses aus betrachtet, ist das Universum des Raums ein zeitbezogenes Phänomen. Die Bewegung der Zeit offenbart sich nur in Beziehung zu etwas, das sich im Raum nicht als ein Phänomen der Zeit bewegt. Im Universum der Universen transzendieren das Paradies und seine Gottheiten sowohl Zeit als auch Raum. Auf den bewohnten Welten ist die (vom Geist des Paradies-Vaters bewohnte und geleitete) menschliche Persönlichkeit die einzige mit dem Physischen verbundene Realität, die die materielle Abfolge der zeitlichen Ereignisse transzendieren kann.
(1439.3) 130:7.5 Die Tiere nehmen die Zeit nicht wie der Mensch wahr, und sogar dem Menschen in seiner ausschnittweisen und begrenzten Sicht kommt die Zeit wie eine Folge von Ereignissen vor; aber je weiter der Mensch aufsteigt, sich innerlich fortentwickelt, umso besser kann seine sich erweiternde Schau diese Ereigniskette in ihrer Gesamtheit erfassen. Das, was früher als eine Aneinanderreihung von Ereignissen erschien, wird dann als ein ganzer und vollkommen zusammenhängender Zyklus gesehen; auf diese Weise ersetzt die kreisförmige Gleichzeitigkeit immer mehr das frühere Bewusstsein von der linearen Abfolge der Geschehnisse.
(1439.4) 130:7.6 Es gibt sieben verschiedene Vorstellungen von dem durch die Zeit bedingten Raum. Der Raum wird durch die Zeit gemessen, nicht die Zeit durch den Raum. Die Verwirrung der Wissenschaftler rührt daher, dass sie die Realität des Raums verkennen. Der Raum ist nicht bloß ein intellektuelles Konzept für die Veränderung in den Beziehungen von Objekten im Universum. Der Raum ist nicht leer, und das einzige dem Menschen Bekannte, was den Raum sogar teilweise transzendieren kann, ist der Verstand. Der Verstand kann unabhängig vom Konzept der Raumbezogenheit materieller Objekte funktionieren. Der Raum ist relativ und vergleichsweise endlich für alle Wesen, die zu den Geschöpfen zählen. Je mehr sich das Bewusstsein der Wahrnehmung von sieben kosmischen Dimensionen nähert, umso mehr nähert sich das Konzept potentiellen Raums der Ultimität. Aber das Potential des Raums ist wahrhaft ultim erst auf der absoluten Ebene.
(1439.5) 130:7.7 Es muss klar sein, dass die universale Realität auf den aufsteigenden und sich vervollkommenden Ebenen des Kosmos eine expandierende und immer relative Bedeutung hat. Letzten Endes erreichen die fortlebenden Sterblichen ihre Identität in einem Universum mit sieben Dimensionen.
(1439.6) 130:7.8 Die Vorstellung von Raum und Zeit eines Verstandes materiellen Ursprungs ist dazu bestimmt, laufend Erweiterungen zu erfahren, während die bewusste und konzipierende Persönlichkeit auf den Ebenen der Universen emporsteigt. Wenn der Mensch die Verstandesebene erreicht, welche zwischen der materiellen und geistigen Ebene der Existenz liegt, haben sich seine Ideen über Zeit und Raum sowohl bezüglich der Qualität der Wahrnehmung als auch der Quantität der Erfahrung gewaltig erweitert. Die wachsenden kosmischen Vorstellungen einer sich vorwärts bewegenden geistigen Persönlichkeit fußen auf der Zunahme der Tiefe der Erkenntnis und des Bewusstseinsbereichs. Und während die Persönlichkeit nach oben und innen den transzendenten Ebenen der Gottähnlichkeit entgegen schreitet, nähert sich die Vorstellung von Zeit und Raum immer mehr den zeitlosen und raumlosen Konzepten der Absoluten. Relativ und in Übereinstimmung mit ihrer transzendenten Vollbringung werden sich die Kinder ultimer Bestimmung diese Konzepte der absoluten Ebene vorzustellen haben.
(1440.1) 130:8.1 Die Insel Malta war der erste Halt auf dem Weg nach Italien. Hier hatte Jesus ein langes Gespräch mit einem niedergeschlagenen und entmutigten jungen Mann namens Klaudius. Dieser hatte erwogen, sich das Leben zu nehmen, aber nachdem er mit dem Schreiber von Damaskus gesprochen hatte, sagte er: „Ich werde dem Leben ins Auge sehen wie ein Mann; ich habe es satt, den Feigling zu spielen. Ich werde zu meinen Leuten zurückkehren und alles neu beginnen.“ Bald darauf wurde er ein begeisterter Prediger der Kyniker und noch später tat er sich mit Petrus zusammen, um in Rom und Neapel das Christentum zu verkünden. Nach Petri Tod ging er als Prediger des Evangeliums nach Spanien. Aber er erfuhr nie, dass der Mann, der ihn in Malta inspiriert hatte, derselbe Jesus war, den er später zum Erlöser der Welt erklärte.
(1440.2) 130:8.2 In Syrakus verbrachten sie eine ganze Woche. Das denkwürdige Ereignis ihres dortigen Aufenthaltes war die Rehabilitierung Ezras, eines vom Glauben abgefallenen Juden, der die Schenke führte, wo Jesus und seine Gefährten abgestiegen waren. Ezra war von der Art bezaubert, wie Jesus auf ihn zukam, und bat ihn, ihm zu helfen, zum Glauben Israels zurückzufinden. Er gab seiner Hoffnungslosigkeit mit diesen Worten Ausdruck: „Ich möchte ein rechter Sohn Abrahams sein, aber ich kann Gott nicht finden.“ Jesus sprach: „Wenn du Gott wirklich finden willst, dann ist dieser Wunsch in sich selber der Beweis dafür, dass du ihn schon gefunden hast. Dein Problem ist nicht, dass du Gott nicht finden kannst; denn der Vater hat dich bereits gefunden; dein Problem ist einfach, dass du Gott nicht kennst. Hast du im Propheten Jeremia nicht gelesen: ,Du sollst mich suchen und wirst mich finden, wenn du mit ganzem Herzen nach mir forschst‘? Und sagt nicht derselbe Prophet auch: ,Ich werde dir ein Herz geben, damit du mich kennest und wissest, dass ich der Herr bin, und du sollst zu meinem Volk gehören, und ich will dein Gott sein‘? Und hast du nicht auch in den Schriften gelesen, wo geschrieben steht: ,Er schaut auf die Menschen hinunter, und wenn einer sagt: ich habe gesündigt und habe verfälscht, was richtig war, und es hat mir keinen Gewinn gebracht, dann wird Gott dieses Menschen Seele aus der Dunkelheit erlösen, und er wird das Licht sehen‘“? Und Ezra fand Gott, und seine Seele ward zufrieden. Später erbaute dieser Jude zusammen mit einem wohlhabenden griechischen Proselyten die erste christliche Kirche von Syrakus.
(1440.3) 130:8.3 In Messina hielten sie sich nur einen Tag lang auf, aber das genügte, um das Leben eines kleinen Jungen, eines Obstverkäufers, zu verändern. Jesus kaufte Früchte von ihm und gab ihm seinerseits vom Brot des Lebens zu essen. Nie vergaß der Knabe die Worte Jesu und den gütigen Blick, der sie begleitete, als er, seine Hand auf die Schulter des Knaben legend, sagte: „Lebewohl, mein Junge, sei guten Mutes, während du zum Mann heranwächst. Nachdem du den Körper gespeist hast, lerne auch, wie man die Seele speist. Und mein Vater im Himmel wird mit dir sein und vor dir hergehen.“ Der Junge wurde ein Anhänger der mithraischen Religion und nahm später den christlichen Glauben an.
(1440.4) 130:8.4 Endlich langten sie in Neapel an und spürten, dass sie nicht mehr weit von ihrem Bestimmungsort Rom entfernt waren. Gonod hatte in Neapel viele Geschäfte zu tätigen, und außerhalb der Zeiten, in denen Jesus als Dolmetscher gebraucht wurde, besuchte und erforschte dieser mit Ganid die Stadt in Muße. Ganid erlangte die Fähigkeit, diejenigen aufzuspüren, welche in Not zu sein schienen. Sie fanden in dieser Stadt große Armut und verteilten viele Almosen. Aber nie begriff Ganid, nachdem er einem Straßenbettler eine Münze gegeben hatte, die Bedeutung der Worte Jesu, der sich weigerte, anzuhalten und dem Mann Trost zuzusprechen. Jesus sagte: „Warum Worte an jemanden verschwenden, der die Bedeutung dessen, was du sagst, nicht verstehen kann? Der Geist des Vaters kann einen, der keine Fähigkeit zur Gotteskindschaft besitzt, weder unterrichten noch retten.“ Jesus wollte damit sagen, dass der Mann keinen normalen Verstand besaß, dass er außerstande war, geistiger Führung zu folgen.
(1441.1) 130:8.5 Sie erlebten in Neapel nichts Außergewöhnliches; Jesus und der junge Mann erforschten die Stadt gründlich und ermunterten mit ihrem Lächeln Hunderte von Männern, Frauen und Kindern.
(1441.2) 130:8.6 Von hier gelangten sie über Capua, wo sie sich drei Tage aufhielten, nach Rom. Über die Via Appia schritten sie neben ihren Lasttieren Rom zu, alle drei gespannt darauf, diese Gebieterin über das Kaiserreich und größte Stadt der ganzen Welt zu sehen.